Identität und Migration: deutsch-jüdische Erzählliteratur nach dem Holocaust[Identity and migration: German-Jewish narrative literature after the Holocaust]

Issue 21 (Summer 2023), pp. 7-27

DOI: 10.6667/interface.21.2023.204

 

Identität und Migration: deutsch-jüdische Erzählliteratur nach dem Holocaust[Identity and migration: German-Jewish narrative literature after the Holocaust]

Chang, Shoou-Huey
Wenzao Ursuline University of Languages


Abstract

Ende der 1980er Jahre begannen junge jüdische Schriftsteller, sich immer offener zu ihrer jüdischen Identität zu bekennen und ihren Wunsch zu äußern, öffentlich Stellung zu beziehen. Mit den historisch-soziologischen Veränderungen im 21. Jahrhundert entstand ein anderer zeitlicher und räumlicher Kontext für die Entwicklung der deutsch-jüdischen Literatur, zudem trieben jüdische Einwanderer aus Osteuropa und Israel neue Entwicklungen in der deutsch-jüdischen Literatur voran. Die deutschsprachige jüdische Gegenwartsliteratur ist multikulturell, vieldimensional und grenzüberschreitend. Vorherrschend ist in den Schriften der jungen Autorinnen und Autoren das Thema Identität. Da sich die Schriftsteller aufgrund ihrer Migrationsgeschichte und jeweiligen Abstammung unterscheiden, nimmt dieser Beitrag einige Autorinnen und Autoren in den Blick, deren Werke in verschiedenen Bereichen Aufmerksamkeit erregt haben.

In dieser Studie werden sowohl zeitgeschichtliche als auch literarische und kulturelle Aspekte beleuchtet. Davon ausgehend richtet sich die vorliegende Untersuchung auf die Entwicklung der deutsch-jüdischen Literatur nach dem Holocaust, wie sie in literarischen Erzähltexten deutschsprachig-jüdischer Autorinnen und Autoren fassbar wird. Darüber hinaus wird untersucht, wie die junge Generation ihre Identität durch ihre literarischen Werke zum Ausdruck bringt, und es werden die Dilemmata aufgezeigt, die die jüdischen Schriftsteller der jungen Generation im Prozess der Identitätsfindung mit ihrer jüdischen Kultur erleben und die sich in ihren Werken widerspiegeln.

Keywords: junge deutsch-jüdische Literatur, Holocaust, jüdische Identität, Migration

Abstract

In the late 1980s, young Jewish writers began to be more open about their Jewish identity and their desire to take a public stand. With the historical and sociological changes of the 21st century, a different temporal and spatial context emerged for the development of German-Jewish literature. In addition, Jewish immigrants from Eastern Europe and Israel initiated new developments in German-Jewish literature. Contemporary German-language Jewish literature is multicultural, multidimensional and crosses borders. The theme of identity is predominant in the writings of the young authors. Since the writers differ due to their migration history and respective origins, this article takes a look at some authors whose works have attracted attention in different areas.

In this study, contemporary historical as well as literary and cultural aspects are examined. Based on this, the present study focuses on the development of German-Jewish literature after the Holocaust, as it becomes comprehensible in literary narrative texts by German-speaking Jewish authors. In addition, it examines how the younger generation expresses their identity through their literary works and highlights the dilemmas that young generation Jewish writers experience in the process of identifying with their Jewish culture and that are reflected in their works.

Keywords: Young German-Jewish Literature, Holocaust, Jewish Identity, Migration

In seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis (1997) greift der deutsche Ägyptologe Jan Assmann (*1938) das Konzept des „kollektiven Gedächtnisses“, inspiriert durch den französischen Sozialpsychologen Maurice Halbwachs (1877-1945), auf. Gemeinsam haben die Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann (*1947) das Konzept der „Erinnerungskultur“ eingeführt, das zu erklären vermag, wie Individuen und die Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte umgehen. Im Gegensatz zu physiologischen Vorstellungen ist das Gedächtnis in den Kulturwissenschaften ein Konzept, das eng mit kulturellen und historischen Aspekten verbunden und weitgehend sozialen Rahmenbedingungen unterworfen ist. Nach Assmann erfordert das kulturelle Gedächtnis die Aufrechterhaltung einer zusammenhängenden Struktur innerhalb eines kulturellen Systems, die einerseits die Vergangenheit mit der Gegenwart durch die Bewahrung und Wiedergabe wichtiger Ereignisse und Erinnerungen verbindet und andererseits ein kollektives Wertesystem und Verhaltensregeln aus den gemeinsamen Erinnerungen herauslöst, so dass die Mitglieder des Kollektivs ein Gefühl der Identität und Zugehörigkeit zu dem kulturellen System, in dem sie leben, entwickeln und sich und das Kollektiv, in dem sie leben, festlegen können. Dies verdeutlicht die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses für die Identität bzw. Identitätsbildung (Lamping, 2003, S. 11). Im Falle der heutigen jüdischen Identitätsfindung bedeutet der Holocaust eine grundlegende Zäsur. Die kollektive Erinnerung an den Holocaust erzeugt erst die Identität der Jüdinnen und Juden, die an diesem weltweit geteilten gemeinsamen Gedächtnis partizipieren. Wollte man die deutschsprachige jüdische Nachkriegsliteratur charakterisieren, so müsste man drei verschiedene Phasen benennen: (1) deutsch-jüdische Literatur nach 1945 mit dem Themenbereich Holocaust der unmittelbar selbst Betroffenen; (2) Literatur der Autorinnen und Autoren der ersten Generation, der Überlebenden, und der zweiten Generation, der Nachgeborenen; (3) Wandel der Literaturlandschaft nach der Wiedervereinigung 1989 durch die Zuwanderung osteuropäischer jüdischer Autorinnen und Autoren, in neuester Zeit aber auch durch israelische Autorinnen und Autoren in den deutschsprachigen Raum. Diese Schriftsteller gehören zumeist der dritten Generation nach dem Holocaust an. In vielen Werken sind die Unterschiede zwischen den drei Generationen in Bezug auf dessen Wertung festzustellen. In der Literatur legen die Autorinnen und Autoren der ersten Generation ihren Schwerpunkt darauf, ein historisches Zeugnis abzulegen und zu bewahren. Für die Autorinnen und Autoren der zweiten Generation ist der Faktor von Bedeutung, ihre jüdische Identität in der Öffentlichkeit zu thematisieren und sich gelegentlich auf den Holocaust als ein zentrales Erinnerungsobjekt zu beziehen, von dem sie erst durch Vermittlung durch die Familie oder verschiedene Medien erfahren haben.

Identität ist eines der meistdiskutierten Themen der aktuellen jüdischen Literaturwissenschaft. Als wichtiges Element der zeitgenössischen Kulturwissenschaft und Kulturkritik hat der Begriff „Identität“ viele Bedeutungen. Durch eine Betrachtung der jüngeren Generation jüdischer Schriftsteller sollen die kollektiven Merkmale der jüdischen Identität oder dessen, was gemeinhin als kulturelle Identität bezeichnet wird, untersucht werden. Im Laufe der Integration der Jüdinnen und Juden in die deutsche Gesellschaft in jüngerer Zeit ist deren jüdische Identität allmählich hinter andere gesellschaftlichen Zugehörigkeiten zurückgetreten.

Nach Hans Otto Horch ist eines der Elemente der deutschen jüdischen Literatur die „komplexe Verflechtung von Fremd- und Selbstbild“, wobei das „Selbstbild“ von einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der eigenen „Identität“ ausgeht (Schütz, 1992, S. 23). Der jüdische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Gershon Shaked (1929-2006) weist darauf hin, dass die Identifizierung einer doppelten deutschen und jüdischen Identität bzw. deren Verfehlung ein entscheidendes Kriterium sein kann, welches ein Werk als jüdisch oder nichtjüdisch kennzeichnet und damit die enge Verbundenheit zwischen der Identitätsfrage und der deutschsprachigen jüdischen Literatur aufzeigt (Schütz, 1992, S. 23). Wenn die Aussagen dieser beiden Wissenschaftler noch auf einem Rückblick auf das Werk jüdischer Schriftsteller vor 1980 beruhen, dann kann die Untersuchung zur Entwicklung der Identität in der deutschsprachigen jüdischen Literatur auf das Schreiben der jüngeren Generation jüdischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen ab den 1980er Jahren ausgeweitet werden.

Das Schreiben der jüngeren Generation jüdischer Schriftsteller ist durch ein sehr ausgeprägtes Ringen nach einer eigenständigen, distinkten jüdischen Identität gekennzeichnet. Dies äußert sich nicht nur darin, dass sich die Autorinnen und Autoren offen zu ihrer jüdischen Identität bekennen, sondern auch in der Gestaltung der Charaktere ihrer Werke und in der Ausarbeitung ihrer fiktiven Handlungen. Zwei Merkmale ihrer Texte sind: Sie schreiben auf Deutsch über jüdische Hauptfiguren, jüdische Themen und die Suche nach der eigenen Identität. Ihr Schwerpunkt liegt auf den Themenkomplexen, die für die Identitätsbildung der zweiten Generation von besonderer Bedeutung sind, wie z.B. Erinnerung, Fremdheit und Migration.

Angesichts des mangelnden Verständnisses der jungen Generation für die Entscheidung ihrer Eltern, nach dem Holocaust weiterhin in diesem Land zu leben, und ihres täglichen Kontakts mit Nicht-Juden, werden ihre Zweifel an ihrer jüdischen Identität verstärkt. Die Konflikte, Widersprüche und weltanschaulichen Verwerfungen, die sich aus der Frage nach der Identität ergeben, sind in den Schriften dieser jungen Schriftsteller offensichtlich. Einigen Forschern zufolge sah die Nachkriegsgeneration jüdischer Schriftsteller die Schaffung einer doppelten Identität nicht mehr als Ziel ihres Handelns an, sondern war vielmehr in den Brüchen und Widersprüchen der jüdischen Identität gefangen. (Nolden, 1995, S. 17)

Mit seinem Werk Junge jüdische Literatur (1995) hat der amerikanische Wissenschaftler Thomas Nolden eine der ersten systematischen Studien über die jüngere Generation der deutschsprachigen jüdischen Literatur vorgelegt (wobei der Autor die jüngere Generation je nach Alter als zweite oder dritte Generation bezeichnet). Nolden stellt bezüglich der Entstehung und Entwicklung einer jüngeren Generation jüdischer Literatur im deutschsprachigen Raum aber auch fest, dass der Großteil der jüngeren Generation deutschsprachiger jüdischer Literatur kaum frei von den Kriegserfahrungen ihrer Eltern und nicht in der Lage sei, die eigenen Erfahrungen wahrheitsgemäß darzustellen. Er bezeichnet diese Literatur als eine Art „Konzentrisches Schreiben“ (Nolden, 1995, S. 11). Das konzentrische Schreiben ist eine Form des literarischen Schreibens, die sich von der christlich geprägten Literatur der Nachkriegszeit in Deutschland und Österreich abhebt, und ein historisches Phänomen, dessen Beschreibung und Wertung mit den gesellschaftlichen Veränderungen innerhalb und außerhalb der jüdischen Kultur zusammenhängt, d.h. phasenweise recht unterschiedlich erfolgt. Noldens Perspektive betont die Auswirkungen der Erfahrungen von Überlebenden auf die nachfolgenden Generationen und unterscheidet sich damit von der „Kleinen Literatur“ (Nolden, 1995, S. 66f.) und der „Minderheitenliteratur“ (Nolden, 1995, S. 70ff.), die sich auf andersartige Erfahrungen konzentrieren.

Im Mittelpunkt der Studie von Nolden steht ein Überblick über die junge jüdische Literaturgeschichte der Nachkriegszeit. Eine weitere zeitgenössische jüdische Literaturwissenschaftlerin, Helene Schruff, hat in ihrem Buch Wechselwirkungen. Deutsch-jüdische Identität in erzählender Prosa derZweiten Generation“ (2000) die Themen der jüdischen Literatur der zweiten Generation aufgelistet. Sie liefert eine spezifische Analyse der einzelnen Texte und hebt Identitätsfragen hervor. Schruffs Interpretation der Konstruktion einer jüdischen Identität der zweiten Generation in der Literatur bezieht sich auf die Beziehung zwischen den Nachkommen der Überlebenden und ihren Eltern, die jüdische Religion, die historische Erinnerung an den Holocaust, den Antisemitismus, die Beziehung zwischen Juden und Nicht-Juden, sowie Heimat und Israel (Schruff, 2000, S. 36). Die Perspektiven dieser beiden Wissenschaftler sind von besonderem Interesse. Seit den 1980er Jahren ist das Interesse an der deutschsprachigen jüdischen Literatur der jüngeren Generation aufgrund besonderer sozio-historischer Bedingungen stark von anderen Ländern, insbesondere den USA, geprägt. Erst im 21. Jahrhundert hat die Entwicklung deutschsprachiger jüdischer Literatur durch die Autoren einer jüngeren Generation in Deutschland und Österreich und sogar in Israel immer mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen.[1]

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem jüdischen Diskurs in der deutsch-jüdischen Literatur nach dem Holocaust und beschreibt das literarische Schaffen der jüngeren Generation jüdischer Schriftsteller im deutschsprachigen Raum, wie z.B. Richard Chaim Schneider, Barbara Honigmann, Robert Schindel, Rafael Seligmann, Maxim Billers und Vladimir Vertlib. Dabei wird ihre Verwirrung und ihr Dilemma bei der Suche nach jüdischer Identität beleuchtet, wie sie sich in ihren Werken widerspiegeln. In diesem Diskurs dominieren zwei Schwerpunkte: die Problematik der Aufarbeitung der Vergangenheit und die Suche nach der Heimat in der Heimatlosigkeit. Heute ist deutsch-jüdische Literatur zu großen Teilen eine migrantische Literatur geworden und hat sich innerhalb dieser zu einem heterogenen und hybriden literarischen Feld gewandelt.

1 Umgang mit der Holocaust-Thematik

Die literarische Entwicklung jüdischer Schriftsteller in den deutschsprachigen Ländern ist eng mit der Integration der Jüdinnen und Juden in die deutsche Kultur und Gesellschaft verbunden. In der Mitte des 18. Jahrhunderts übersetzte der jüdische Philosoph und Theologe Moses Mendelssohn (1729-1786) die hebräische Bibel und führte die deutsche Sprache bei der jüdischen Bevölkerung ein, insbesondere bei der jüdischen Elite. Unter Mendelssohns Einfluss begannen einige deutsche Juden allmählich, sich Deutsch als Alltagssprache anzueignen, wenn auch zunächst nur in einer sehr kleinen Minderheit. Die Integration der Juden in die deutsche Kultur und Gesellschaft setzte sich bis zum Kaiserreich unter Wilhelm II weiter fort. Ludwig Börne (1786-1837), eine herausragende Persönlichkeit der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, 1818 aus beruflichen Gründen zum Christentum konvertiert, wurde zu einem Vertreter der fortgeschrittenen deutschen Kultur jener Zeit. Ein weiterer aktiver jüdischer Vertreter an der deutschen Kultur mit jüdischer Abstammung war Heinrich Heine (1797-1856), ein enger Freund Börnes, der seine christliche Taufe als „Entréebillett zur europäischen Kultur“ betrachtete. Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kann als eine Blütezeit für jüdische Schriftsteller bezeichnet werden. Zu den berühmtesten gehören die expressionistischen Schriftsteller wie z.B. Alfred Wolfenstein (1883-1945) und Walter Hasenclever (1890-1940), neben ihnen die jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler (1869-1945), deren Gedichte in späteren Zeiten viel Aufmerksamkeit erregt haben. Andere berühmte deutsch-jüdische Schriftsteller aus dieser Zeit sind Arnold Zweig (1887-1968) und Lion Feuchtwanger (1884-1958). Wien und Prag wurden dadurch auch zu Zentren der jüdischen Literatur. Die Werke von Franz Kafka (1883-1924) genießen heute in der literarischen Welt den höchsten Stellenwert. Stefan Zweig (1881-1942) war ein österreichischer jüdischer Schriftsteller, der mit der jüdischen Kultur in Wien in Verbindung gebracht wurde. Das deutschsprachige jüdische Literaturschaffen, das während des nationalsozialistischen Regimes aufgrund von Schreibverbot, Emigration und Holocaust nahezu ausgelöscht worden war, erlebte nach dem Krieg eine Zeit lang einen Tiefpunkt, und auch das Auftreten so bekannter Schriftsteller wie Paul Celan (1920-1970) und Nelly Sachs (1891-1970) konnte an der allgemeinen Situation einer massiven Abschwächung des jüdischen Schreibens nichts ändern. Seit den 1980er Jahren hat sich in Deutschland allmählich eine jüngere Generation jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller herausgebildet, und mit ihr hat sich auch die Erforschung der deutschsprachigen jüdischen Literatur vertieft. Die Daten zu ihrer Entwicklung und den damit verbundenen historischen Diskursen wurden zusammengetragen und zu einem relativ eigenständigen Bereich der Literaturwissenschaft ausgebaut.

In den 1980er Jahre wurde der Holocaust zu einem Kristallisationspunkt des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses. Diese Vergangenheit prägt die Identität der jüngeren jüdischen Generation und führt zuweilen zu einer negativen Symbiose zwischen den im deutschsprachigen Raum lebenden jüdischen und nichtjüdischen Bürgern (Diner, 1987, S. 185-197).

Für die meisten Autorinnen und Autoren der Zweiten Generation, denen die Konzentrationslagererfahrung erspart geblieben war und die die Stätten des Holocaust als äußere Linien des schrecklichen Geschehens kennen, sind diese Traumata ihrer Vorfahren ein wichtiger Bezugspunkt in der Bestimmung der eigenen Identität. Folgende Autoren und ihre Schriften haben die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf sich gezogen und können stellvertretend die aktuellen Lebens- und Schreibweisen der jüngeren jüdischen Generation in Deutschland, Österreich bzw. Israel repräsentieren. Die Autobiographie des Journalisten und Dokumentarfilmers Richard Chaim Schneider (*1957) Zwischenwelten (Schneider 1994, S. 58, 105) gilt als repräsentativ für diese Generation und ihm gilt Auschwitz als eine Erfahrung, die die Grenzen des Raums und der Zeit überschreitet. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut (*1949) dagegen übt in seinem Buch Der eingebildete Jude (Finkielkraut 1982) Kritik an der Herausbildung jüdischer Identität bei den Nachgeborenen: Ihr Merkmal sei die selbstgewählte Rolle des Opfers, des Märtyrers und Außenseiters. Auch in Israel mehren sich in den letzten Jahrzehnten die Stimmen derjenigen Autorinnen und Autoren, die vor einer Instrumentalisierung des Holocaust warnen, wie z.B. der israelische Journalist und Historiker Tom Segev (*1945). Sie machen auf die Tendenz aufmerksam, den Holocaust als eine Art Religionsersatz für das Judentum zu verallgemeinern oder zu einem nationalen Mythos umfunktionieren zu wollen (Segev 1995). Schneider kritisiert auch: „Der Holocaust ist in unserer Gesellschaft zum Fetisch geworden“ (Schneider, 1997, S. 283). Insgesamt jedoch kann man sich das jüdische Selbstbewusstsein in Deutschland im 20. Jahrhundert ohne Bezug auf den Holocaust wohl kaum vorstellen.

Auch bei der aus Ost-Berlin stammenden Autorin Barbara Honigmann (*1949) ist es ein Foto, das Grauen und Schrecken in Erinnerung ruft. In ihrer Erzählung Roman von einem Kinde (Honigmann 1986), die von der Suche nach ihren jüdischen Wurzeln handelt, beschreibt sie das Foto einer jüdischen Mutter, die ihren Sohn in den Armen hält, während beide von einem deutschen Soldaten mit einer Waffe bedroht werden. Dieses bekannte Holocaust-Motiv, das an das Bild des jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto erinnert, bringt die Ich-Erzählerin ihrer jüdischen Identität näher. Dennoch ist der Holocaust für Honigmann nur ein Katalysator auf ihrer Reise zu den jüdischen Wurzeln. Dabei trifft sie bewusst eine Entscheidung für den Glauben der Väter und für die Tradition:

„Hier bin ich gelandet vom dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein.“ (Honigmann, 1986, S. 111)

Honigmann, die sich vollständig von der jüdischen Tradition gelöst hatte und sich wieder mit ihr auseinandersetzen möchte, kann sich nur in ihrer Wahlheimat Frankreich von den Identitätswidersprüchen befreien, mit denen sie in Deutschland konfrontiert war, und den Zwiespalt zwischen ihrer jüdischen Herkunft und ihrem sozialen Umfeld auflösen. Indem sie über ihre eigenen Erfahrungen schreibt, zeigt Honigmann eine Situation, in der sie sich von der jüdischen Kultur entfremdet fühlt und einen Platz in der deutschen Kultur findet. Zwar verlässt sie Deutschland aus eigenem Entschluss, hält aber in ihrem grenznahen „europäischen“ Wohnort Straßburg durch ihr deutschsprachiges Schreiben eine enge Verbindung dorthin aufrecht und bleibt damit sowohl mit der deutschen als auch mit der jüdischen Kultur in Kontakt.

Für die jüngere Generation steht der geistige Zusammenhalt oder das Gefühl der Zugehörigkeit im Mittelpunkt des Problems. Ob es nun der Holocaust in der Erinnerung oder die Ausgrenzung der Juden im realen Leben ist – beides führt nicht zu einer Loslösung von der deutschen Kultur. Sie setzen sich mit der Fremd- und Eigenwahrnehmung des Jüdisch-Seins auseinander. Im Prozess permanenter Selbstreflexion scheint der Holocaust der Ausgangspunkt zu sein.

2 Heimat in der Heimatlosigkeit

Was ist das Spannungsverhältnis, aus dem die jüdischen Autorinnen und Autoren der zweiten Generation paradoxerweise ihre Schaffenskraft schöpfen? „Heimat zu produzieren inmitten der Heimatlosigkeit selbst“ (Schindel, 1995, S. 33), nennt es der Wiener Autor Robert Schindel (*1944): „Für ihn wie für andere jüdische Autoren ist das Schreiben verbunden mit der Suche nach Geborgenheit. Es ist Erinnerung und Befreiung gleichzeitig“ (Feinberg, 1999, S. 51). Das Oxymoron kennzeichnet das Leben und die künstlerische Kreativität vieler dieser Autoren.

Während sich die Generation der Eltern nicht selten einer Selbsttäuschung hingibt und sich selbst weiszumachen sucht, dass man nur vorübergehend in Deutschland bleiben wolle und auf gepackten Koffern sitze, entscheidet sich die Mehrzahl der jüdischen Autorinnen und Autoren, in Deutschland zu bleiben, auch wenn ihnen die daraus mögliche resultierende innerliche Zerrissenheit bewusst bleibt.

Ein Teil der nachgeborenen deutschen Autorinnen und Autoren jüdischer Abstammung spricht sich gegen die Vorstellung aus, dass Deutschland ihre Heimat sei. Esther Dischereit (*1952), die erst spät ihre jüdische Identität entdeckt, oder, genauer gesagt, sich erst nach einer langen Phase des Suchens zu ihr bekennt, betont: „Pass, Sprache, das Vertraute, ja das habe ich, aber immer und stets den Zweifel an dessen Bestand“ (Dischereit, 1998, S. 44). Die literarische Annäherung an den Holocaust führt unweigerlich zu einer Auseinandersetzung mit dem Schicksal der eigenen Eltern wie auch mit deren Mentalität, die durch Schweigen und Verdrängung gekennzeichnet ist.

Ein anderer Vertreter jüdischer Schriftsteller der zweiten Generation – Rafael Seligmann (*1947) – bezeichnet sich als deutschen Juden mit migrantischem Hintergrund. In seinen Romanen setzt er sich kritisch mit jüdischer Existenz im Nachkriegsdeutschland auseinander. In seinem Werk Rubinsteins Versteigerung (Seligmann, 1991) beschreibt er, der als zehnjähriges Kind mit seinen Eltern Israel verließ und nach Deutschland kam, den Reifeprozess und die Bewusstseinsentwicklung des heranwachsenden Jonathan Rubinstein. Dessen Standpunkt ist durch das Gefühl der Nichtzugehörigkeit geprägt und läuft auf eine bewusste Distanz hinaus: „Fremd bleiben wir in jedem Fall. Wir gehören nicht dazu! Wollen es nicht und können es nicht nach all dem, was die Kerle unserem Volk angetan haben“ (Seligmann, 1991, S. 70). Er will das Kranke, Neurotische am Dasein von Juden und Nichtjuden im Schatten des Holocaust herausarbeiten: Dabei versucht er immer wieder zu provozieren und Tabus zu brechen. Im Hinblick auf seine Person kann man darüber hinaus nachdenken, inwiefern solche autobiographischen Berichte oder Erinnerungsbücher als „junge jüdische Literatur“ (Nolden, 1999) bezeichnet werden könnten. Seligmann nimmt weder Rücksicht auf die Angst vor Selbstoffenbarung noch auf die Reaktion von Antisemiten, die nach einer Entschuldigung verlangen. Damit ist er näher an der Realität des jüdischen Lebens in Deutschland als viele andere Abhandlungen zu demselben Thema. Der Autor wurde für seinen Mut, die Grenzen des jüdischen Konservatismus zu überschreiten, anerkannt und als einer der wenigen Juden bezeichnet, die Deutschland und das Judentum nicht in einen Gegensatz stellen (Kilchner, 1995, S. 528f.).

3 Erinnerung und Zukunft in der Literatur

Wie bildet sich jüdische Existenz im Schatten der Erinnerung in den späteren Jahren des 20. Jahrhundert heraus? Die Auseinandersetzung zwischen Eltern, meist Überlebenden, und deren Kindern ist ein Hauptthema von Maxim Billers (*1960) Prosa. Die einstige Unterscheidung zwischen Opfer und Täter wird in den Geschichten Billers außer Kraft gesetzt. Die Opfer werden als Menschen mit Fehlern und Schwächen dargestellt. Mal sind es Schnorrer, mal erfolgreiche Geschäftsleute, mal einsame und armselige Kreaturen, die im Schatten des Holocaust von ihrem Schuldkomplex nicht loskommen und ihrerseits die Vergangenheit verdrängen. Deutschland ist für Biller, wie seine autobiographische Erzählung „Der Anfang der Geschichte“ deutlich macht, „das einzige Land, in dem ich keine Angst hatte, zugrunde zu gehen“ (Biller, 1994, S. 369). In seinen Werken reproduziert und gestaltet er immer wieder die Komplexität der jüdischen Identität. Dazu zieht er „bestehende Diskurse über jüdische und deutsche Identität heran, positioniert sich in deren Zwischenraum und kreiert so seine eigenen, persönlichen Ich-Diskurse“ (Codrai, 2015, S. 9). Damit erschließt Biller neue Perspektiven für das deutschsprachige jüdische Literaturschaffen seit 1989.

In seinem Roman Gebürtig (1992) zeichnet Robert Schindel ein anschauliches Bild von Opfern und Nachkommen von Tätern, deren Seelen durch das kollektive Schicksal und die persönliche Geschichte zerrissen werden. Der Protagonist in seinem Roman spricht von einer bewussten Flucht in die Sprache, weg von den Heimatlandschaften und den Einheimischen, weg von der österreichischen Mentalität. Obwohl sie am gesellschaftlichen Leben Wiens teilnehmen, sind Schindels jüdische Protagonisten auf der Suche nach den seelischen Regionen, nach der „inneren Geographie“ (Schindel, 1992, S. 57). Der Weg zu dieser inneren Geographie führt wiederum zu den jüdischen Wurzeln. Erinnerung und Vergegenwärtigen sind für Schindel die jüdischen Themen, die seine jüdische Identität neu hervorgerufen haben.

Junge jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Biller, Dischereit, Honigmann und Seligmann definieren sich in zweifacher Hinsicht neu, nicht nur gegen die Stereotype, die in der Gesellschaft seit jeher kursieren, sondern auch gegen die Identitätsmuster, die ihnen von der Generation ihrer jüdischen Eltern, den Überlebenden der Konzentrationslager, vermittelt oder gar aufgezwungen wurden. Junge jüdische Schriftsteller sind mittlerweile in der Lage, offener über ihre Situation als Minderheit, ihr Gefühl der Entfremdung in Deutschland und ihren Hass auf die Unterdrücker ihrer Eltern zu sprechen. Aber sie kritisieren auch die Generation ihrer Eltern, die in Deutschland geblieben ist und ihren Nachkommen ein widersprüchliches Leben beschert hat. Die einzige Möglichkeit, dieser Ambivalenz zu entkommen, sei, nach Israel auszuwandern und damit einen Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen.

Israel wird dabei fast als utopisches Land stilisiert. Der Staat trägt eine historische Kontinuität der jüdischen Identität in sich. Die Diskrepanz zwischen der politischen und sozialen Realität in Israel nach der Staatsgründung und den Erwartungen der jüdischen Diaspora in aller Welt ist jedoch groß. Wenn die jüngere Generation deutschsprachiger jüdischer Schriftsteller in ihren Werken über die Frage der Identität nachdenkt, wird ein konkreter Ortsbezug nicht zur einzigen Referenz für die Identität ihrer Protagonisten. Zwar nutzt auch die jüngere Generation Israel nur als Ort der Zugehörigkeit bei ihrer Identitätssuche, doch fällt es denjenigen, die in einer deutschsprachigen Kultur aufgewachsen sind, schwer, Israel als eine politisch geprägte jüdische Tradition zu akzeptieren – sie fühlen sich dieser eher fremd. Sehr schnell „schlägt das Gefühl der Vertrautheit und Zugehörigkeit um in die Erfahrung der Nichtzugehörigkeit, der Fremde und der Sprachlosigkeit“ (Mittelmann, 2009, S. 436). Die Protagonisten im Roman der deutschsprachigen israelischen Schriftstellerin Ronnith Neuman (*1948) Heimkehr in die Fremde (1985) entscheiden sich bewusst, in die Diaspora zurückzukehren und in Deutschland zu leben. Der Protagonist in Seligmanns Roman Schalom meine Liebe (1998) entscheidet sich für die Ehe und die Fortführung des Lebens in der Diaspora. Die Idee des „deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens“ (Barkai, 2002) aus der Zeit vor dem Holocaust hat eine neue Bedeutung erlangt und wird allmählich in der Judenheit allgemein und auch von Schriftstellern akzeptiert. An die Stelle der Täter-Opfer-Relation ist der Gedanke einer gemeinsamen Suche nach einem friedlichen Umgang miteinander getreten. Der Holocaust rückt als historisches Ereignis in der jüdischen Gemeinschaft und der Konstruktion ihrer Identität allmählich in den Hintergrund. Man ist nun bereit, sich zu befreien – von eigenen Fremdbestimmungen wie von denen der Anderen. Gleichzeitig ist das Leben deutsch-jüdischer Staatsbürger in Deutschland nicht frei von Herausforderungen, die jedoch so gestaltet werden können, dass die Widersprüche des deutsch-jüdischen Zusammenlebens produktiv gemeistert werden, denn „als integraler Teil der deutschen Gesellschaft nimmt man nun das Recht für sich in Anspruch, Kritik an ihr zu üben und dokumentiert in der Doppelrolle des ‚Insider-Outsiders‘ – das Fremde im doch so vertrauten Deutschland, Österreich und in der Schweiz“ (Mittelmann, 2009, S. 437).

4 Von der Tradition zur Innovation: Schreiben aus einer multikulturellen Identität

Bei der Diskussion über die deutschsprachige jüdische Literatur der jüngeren Generation ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den betroffenen Werken nicht einfach um eine Literatur handelt, die das soziale und kulturelle Leben im deutschsprachigen Raum widerspiegelt, auch nicht um eine jüdische Literatur, die sich mit dem religiösen Leben im traditionellen Sinne befasst, und auch nicht allein nach der jüdischen Herkunft der Autoren und der Autorinnen oder der Sprache, in der sie schreiben, beurteilt werden darf, sondern vielmehr nach dem lebensweltlichen Gehalt der Werke. In diesem Sinne haben die literarischen Werke jüdischer Schriftsteller nationale oder auch ethnische Grenzen überschritten und sind gewissermaßen kulturübergreifend geworden (Kilchner, 2006, S. VII). Nach der deutschen Wiedervereinigung löst sich die jüngere Generation der Jüdinnen und Juden im deutschsprachigen Raum von ihrer bisherigen Identität und erlebt die Vielfältigkeit der europäischen Kultur. Als junge jüdische Einwanderer nach Deutschland kommend, nicht nur aus den ehemaligen sowjetischen Ländern, sondern auch aus Israel und den USA, entwickeln die Zuwanderer eine weitere Dimension der multikulturellen Identität. Der Konflikt und die Ungewissheit zwischen Heimat und Zugehörigkeitsgefühl scheinen sich aufzulösen. Die neue Generation jüdischer Einwanderer in Deutschland ist zwar von ihren kulturellen Erinnerungen an das Leben in verschiedenen Ländern geprägt, erlebt aber auch – zumal in den großen Städten, wo sie meist leben – eine Vielfalt von Kulturen, so dass diese Verbindungen zur jüdischen Identität nicht mehr nur sentimental sind. Sogar Israel wird eher als „moderner Ferien- und Vergnügungspark für die Familie und nicht als das ‚Gelobte Land‘ gesehen“ (Mittelmann, 2019, S. 438). Man kann zur gleichen Zeit Russe, Deutscher und Jude sein, wie zum Beispiel der Schriftsteller Vladimir Vertlib (*1966). Er wurde in Leningrad in eine Familie jüdischer Abstammung geboren, sein Vater ein Rechtsanwalt und beide Eltern aktive Mitglieder der illegalen zionistischen Organisation. Auf der Flucht vor politischer Verfolgung und dem zunehmenden Antisemitismus in Russland emigriert er 1971 mit seinen Eltern nach Israel, lebt später in den Niederlanden, in den Vereinigten Staaten und in Italien, bevor er 1981 nach Österreich kommt. Er reist mehrmals nach Israel und Wien und nutzt die beiden Orte als „Zwischenstationen“, bevor er sich in Salzburg niederlässt. In seinem Debütroman Abschiebung (1995) und Spiegel im fremden Wort (2007) greift er die Thematik seines Schreibens auf, die sich mit der Frage nach der Heimat, der Suche nach der persönlichen Identität und den jüdisch-europäisch-israelischen Wechselbeziehungen und Auseinandersetzungen befasst. Mit seinem scharfsinnigen Erzählstil, seiner humorvollen Ausdrucksweise und (Selbst-)Ironie verschafft er der Literatur einen diskursiven Freiraum. Vertlibs Romane betonen in unterschiedlicher Weise die Verbindungen von Identitäten, von Vertrautheit und Fremdsein und greifen die Komplexität von Migration auf. Wenn Vertlib beispielsweise in seinem Roman Zwischenstationen (1999) einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der deutsch-jüdischen Literatur gibt, formuliert er dies als Vertreter der jüngsten Generation und zwar konkret in seiner „Zwischenrolle“ und als Ausdruck multikultureller Identität:

„Ich dachte manchmal, ich sei in Israel, dann wieder, ich sei in Rußland, bis ich verstand, dass da beides stimmte. Das Haus war ein Teil Israels und Rußlands, der sich in einer fremden Welt namens Wien befand. Keine Frage: die Welt war wie eine Anzahl von Schachteln aufgebaut, die ineinanderpaßten.“ (Vertlib, 1999, S. 280)

Vor dem Hintergrund der Migrations- und Integrationserfahrung diskutiert er in seinem autobiographischen Schreiben die Themen Fremdheit und Zugehörigkeit in der Vergangenheit und setzt sie mit den aktuellen Ereignissen der Gegenwart und Zukunft in Verbindung.

Für die jüngste Generation ist die jüdische Identität ein Prozess der mehrfachen Identifikation mit multikulturellen Aspekten, die sich in der Entwicklungsphase der verschiedensten Selbstdefinitionen befinden. Der Diskurs über Wahrheit und Einheitlichkeit ist vom Paradigma der mehrfachen Identitäten abgelöst worden.

In der deutschsprachigen jüdischen Literatur der Nachkriegszeit werden die Lebenswelten und die Situation der jungen jüdischen Nachkriegsgeneration und ihre Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten von Gesellschaft, Kultur und Nationalität konkret dargestellt. Unabhängig davon, ob die Protagonisten in endloser Verwirrung oder gar im Irrsinn enden, oder ob sie durch ihren ständigen Kontakt mit der deutschen oder jüdischen Kultur einen „bilateralen Bezug“ aufrechterhalten müssen, werden sie zu den Subjekten, die sich in den Worten der Schriftsteller widerspiegeln. Einerseits wird das Schreiben zu einem Ausdrucksmittel, andererseits macht es die aktuelle Situation jüdischer Existenz zu einem Spiegel der zeitgenössischen Beziehungen mit den Nicht-Juden.

Obwohl das traditionelle Bild der Juden als Außenseiter oder ewige Wandrer nach wie vor ein wichtiges Motiv der jüdischen Identität bildet, hat diese Generation eine neue Art, es zu interpretieren. Sie erkundet die Möglichkeiten und die Vielfalt unterschiedlicher Identitäten und Zugehörigkeiten. Die jüngste Generation jüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller hat sich eine neue Perspektive in der Auseinandersetzung mit jüdischer Identität und jüdischem Leben in Deutschland, Österreich und der Schweiz eröffnet.

Die Vielfalt der heute in Deutschland lebenden Juden hat das traditionelle Identitätsverständnis der jüdischen Nachkriegsgemeinschaft in Deutschland verändert. Während in den 1980er und 1990er Jahren versucht wurde, eine Identität von Juden in Deutschland nach dem Vorbild der Vorkriegsgemeinschaft zu schaffen, hat sich im 21. Jahrhundert ein neues Modell des Selbstverständnisses herausgebildet, das eng mit dem allmählichen Wandel Deutschlands zu einem Einwanderungsland zusammenhängt, der wiederum das Selbstverständnis Deutschlands als homogene, durch gemeinsame Sprache, Erfahrung und Geschichte definierte Gemeinschaft in Frage stellt. Auch die jüdische Gemeinschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland neu ansiedelte, stand vor der Aufgabe, der neuen pluralistischen, multikulturellen und mehrsprachigen Realität gerecht zu werden, die durch die Einwanderungswelle jüdischer Flüchtlinge aus den GUS-Staaten sowie junger Jüdinnen und Juden aus Israel, den Vereinigten Staaten und anderen europäischen Ländern entstanden war.

References

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[1]In der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen jüdischen Literatur ist es zu einiger Neubewertung der Theorie und einer Veränderung des Schaffensstils gekommen: Lydia Helene Heiss (2019); Katja Garloff/Agnes Mueller (2018) Nora Isterheld (2017); Norbert Honsza / Przemysław Sznurkowski (Hrsg.) (2017); Gillian Pye: (Hrsg.) (2013); Godela Weiss-Sussex, Maria Roca Lizarazu (Hrsg.) (2020).

× Footnote:
[received March 22, 2023
accepted July 25, 2023]

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