Rezension: Interventionen: Literaturkritik als Widerspruch bei W. G. Sebald

Issue 2 (Spring 2017), pp. 75-81

DOI: 10.6667/interface.2.2017.37

 

Book Review: Querdenken gegen die intellektuelle Leitkultur – W. G. Sebald interveniert

Christian Hein

National Taiwan University

Schütte, Uwe (2014). Interventionen: Literaturkritik als Widerspruch bei W. G. Sebald.
München: edition text + kritik.
ISBN: 978-3-86916-354-3. 651 S., 45 EUR.

Mit seinem neuen Buch Interventionen: Literaturkritik als Widerspruch bei W. G. Sebaldlegt Uwe Schütte, Reader an der Aston University, Birmingham, nach W. G. Sebald: Einführung in Leben und Werk und Figurationen: Zum lyrischen Werk W. G. Sebalds eine gewaltige Studie von mehr als 600 Seiten vor, die sich mit ungeheurem Detailreichtum Sebalds Essays zur Literatur widmet. Vor allem bekannt durch seine Romaneund Erzählungen - zu nennen wären hier an erster StelleAusterlitz, Die Ausgewanderten sowie Die Ringe des Saturn - markieren Sebalds Schriften zur deutschsprachigen Literatur ein bisher nur unzureichend erforschtesTerrain. Stellte Schüttes W. G. Sebald: Einführung in Leben und Werk eine erstegenerelle Annäherung an Werk und Autor dar, so repräsentiert Interventionen nun die erste umfassende Studie zu Sebalds stark zwischen Literaturwissenschaft und Essayistik schwankenden Aufsätzen zu (hauptsächlich) deutschsprachigen (teils bewunderten - teils radikal abgelehnten) Schriftstellern. Mit großer Kennerschaft läßt Schütte kaum einen Aspekt von Sebalds oftmals polemischen Essays unberührt und analysiert das umfangreiche Werk unter Zuhilfenahme biographischen und bisher in der Sekundärliteratur der Forschung vernachlässigten Materials. Schüttes persönliche Bekanntschaft mit Sebald als dessen Doktorand und Assistent an der University of East Anglia und folglich sein gleichsam privilegierter Zugang zu wenig bekannten Aspekten aus Sebalds Leben trägt zum beeindruckenden Informationsreichtum der Studie maßgeblich bei.

Strukturell gliedert sich Schüttes Buch in drei Hauptteile mit insgesamt zwanzig Kapiteln und beginnt mit den frühen kritischen Schriften Sebalds zu Carl Sternheim und Alfred Döblin. Chronologisch bewegt sich die weitere Ausarbeitung an Sebalds kritischen Essays weiterbis zu dem kontroversen Luftkrieg und Literatur und Logis in einem Landhaus. Schütte zeigt, daß sich in diesen frühen Kritiken an etablierten Autoren des deutschsprachigen Literaturkanons bereits die Abnabelung Sebalds von der akademisch betriebenen Germanistik abzeichnet - ein Prozeß, den Sebald im Lauf seiner schriftstellerischen Tätigkeit im unkonventionellen Umgang mit deutschsprachigen Autoren in seinen Essays zur österreichischenLiteratur Unheimliche Heimat sowieDie Beschreibung des Unglücks und vor allem im Kritik-Band Logis in einem Landhaus zu seltener essayistischer Perfektion bringen sollte. Immer wieder kommt Schütte auch auf die Romane Sebalds zu sprechen, so daß die Studie einen wertvollen Einblick in das gesamte schriftstellerische und literarische Schaffen des Autors bietet. Insbesondere die enge Verschlingung literaturwissenschaftlich-essayistischer Arbeit mit den großen Prosakunstwerken des späten Sebald arbeitet Schütte minuziös heraus und bietet so ein Panorama des Schreibprozesses, in dem Autor und Material - Biographie und Fiktion - untrennbar im Prozeß der ästhetischen Arbeit miteinander verbunden sind. Besonderen Stellenwert haben in Schüttes Analyse die literarischen Wahlverwandten Sebalds: Franz Kafka, Robert Walser, Jean Améry, Thomas Bernhard, Peter Handke (u. a. bevorzugterweise österreichische Schriftsteller), an deren Vorbild der deutsche Schriftsteller nicht nur seine Prosa, sondern auch seine (melancholische) Mentalität entwickelte.

Der besondere Wert von Schüttes Studie liegt nun vor allem darin, daß er seinen ehemaligen Lehrer nicht idealisiert - nein, Schütte wirkt nie epigonal und spart nicht mit Kritik an Sebald und dessen unkonventioneller literaturwissenschaftlich-kritischer Vorgehensweise - eine eigentümliche Sebaldsche Art literarischer Analyse, die es durch ihre polemische Zielsetzung mit den Fakten nicht immer genau nimmt. Vor allem den selektiven (manchmal sogar gleichgültigen) Umgang mit Sekundärquellen wertet Schütte als Makel der SebaldschenEssayistik und führt dies dezidiert vor an Sebalds Kafka-Essay Das unentdeckte Land. Zur Motivstruktur in Kafkas Schloß vor. Auch den international hochgelobten Roman Austerlitz - Sebalds letztes publiziertes und vielleicht weltweit bekanntestes Werk - erkennt Schütte im Vergleich zu Sebalds früheren Prosaschriften als künstlerisch weniger bedeutsam.

Schütte bietet jedoch keine Dekonstruktion des Autors, sondern vielmehr eine Rekonstruktion der Genesis des literarischen Werks Sebalds aus den literaturkritischen Schriften und zeigt, wie sehr sich die Prosa des deutschen Exilschriftstellers aus dem ästhetischen Querdenkertum Sebalds entwickelt hat, das auch Sebalds kritische Haltung zur zeitgenössischen Politik und zum historischen Diskurs bestimmt hat. Unter dem ironisch-parodistischen Titel „Lehrjahre & Gesellenstück - Ein Portrait des Germanisten als junger Mann“ beginnt Schütte seine Charakterisierung des jungen Sebalds, der bereits früh als wortgewaltiger Polemiker gegen den etablierten Literaturbetrieb austeilt. Sebald erscheint als Schriftsteller in einer ideologisch-formativen Phase, der vorsätzlich gegen den literarischen Strom der Zeit schwimmt. Im Hinterkopf trägt er dabei stets die kritische Theorie der Frankfurter Schule, um die große Namen der zeitgenössischen Deutschen Literatur zu destruieren. Insgesamt sieht Schütte Sebalds intellektuelle Wahlverwandtschaft bei Walter Benjamin, was besonders deutlich im Essay Luftkrieg und Literatur zum Ausdruck komme: „Als erste wichtige Quelle für Sebalds Denken der Geschichte als eines naturhistorischen Verfallsprozesses sind die entsprechenden Passagen im Ursprung des deutschen Trauerspiels zu benennen.“ (510) Diesen Verfallsprozess sieht Sebald nicht nur in der Natur, sondern auch in der zeitgenössischen Kultur und hier vor allem in der vom germanistischen Establishment kanonisierten Literatur. Bei seiner kritischen Arbeit geht der Autor folgerichtig mit Vorliebe gegen die Lieblinge der Germanistik vor.

Das erste Idol der Germanistik, das Sebald durch seine Attacken von seinem Podest stößt, ist Carl Sternheim. Bereits bei dieser ersten kritischen Publikation im Kohlhammer-Verlag wird Sebalds unkonventionelle Vorgehensweise deutlich, bei der der Autor sich wenig oder kaum an die formalen und stilistischen Vorgaben zum Verfassen einer akademischen Studie hält - eine Eigenart, die Sebald auch in seinen späteren Essays beibehalten wird, und in der sich der Stil der späteren Prosaarbeiten bereits andeutet.

Neben der polemischen Sternheim-Studie, mit der Schütte seine kritische Studie eröffnet, steht selbestredend Sebalds polemischeAttacke Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins auf dem Programm. Wie die Sternheim-Arbeit markiert die Döblin-Schrift einen Angriff Sebalds auf das literarische Establishment ansich durch eine recht einseitig-polemische Analyse des Werks eines etablierten Autors, der gewissermaßen stellvertretend für die zeitgenössische Germanistik als Autorität in Sachen Literatur und Ästhetik abgestraft wird. Dass Sebald ausgerechnet die jüdischen Schriftsteller Sternheim und Döblin ins Visier nimmt, mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, wenn man seine weltanschauliche Identifikation mit der Frankfurter Schule bedenkt. Allerdings leuchtet diese Vorgehensweise spätestens bei der Döblin-Kritik ein, da es Sebald um eine konkrete Revision des literarischen Kanons durch einen gezielten Angriff auf die Autoritäten des Kulturbetriebs geht. Mit Sternheim und Döblin wählt Sebald jüdische Autoren, die (in seinen Augen) den Fehler begangen haben, sich an den offiziellen deutschen Literaturbetrieb und der legitimen literarisch-ideologischen Leitkultur anzubiedern. Wie weit Sebald mit seiner Polemik geht, wird dann deutlich, wenn er die Anbiederung an die deutsche Leitkultur mit der Behauptung untermauert, Döblin (wie auch Sternheim) seien insgeheim Judenfeinde: „Die Provokation [...] bestand darin, Döblin einen manifesten Antisemitismus zu unterstellen; ein gewichtiger Vorwurf, der ihn für Sebald in einer Reihe mit Sternheim stehen ließ.“ (121) An diesem Beispiel führt Schütte vor, dass Sebald zur äußersten Provokation bereit ist, und mit extremen Mitteln gegen von der Germanistik kanonisierte Schriftsteller vorzugehen bereit ist. Sebalds Essays zeigen folglich eine Facette des Autors, die aus den Romanen, in denen stets der Philanthrop und Holocaust-Schriftsteller Sebald von der Kritik lobend hervorgehoben werden, auf den ersten Blick gänzlich zu fehlen scheinen. Der scharfzüngige Kulturkritiker, dessen Polemik einen weitaus holistischeren Charakter hat, wird in Interventionen Stück für Stück mit großer Genauigkeit herausgearbeitet.

Schütte spürt in seinem Buch diesem eigenwilligen Vorgehen Sebalds detailliert nach und beweist anhand unzähliger Beispiele, dass Sebalds provokanter Wahnsinn Methode hat und einem wohldurchdachten Plan folgt. Dies belegt Schütte eindrucksvoll und mit einer Fülle von Fakten anhand Sebalds Essays, in welchen nicht nur verhasste Literaten wie Alfred Andersch aufs Schärfste kritisiert werden, sondern in vielen Fällen verehrten literarischen Vorbildern ein Denkmal gesetzt wird. In gewisser Weise ist es gerade dieser (Sebalds eigener) Kanon von ästhetischen Leitfiguren, die ein bezeichnendes Licht auf den Autor und seine eigenartige Position in der Germanistik werfen. So vernichtend Sebalds Kritik an Schriftstellern wie Sternheim, Döblin, Andersch und Grass auch sein mag - so grenzenlos sind sein Lob und seine Bewunderung für Autoren wie Jean Amery, Georges Perec, Robert Walser und Peter Handke (dieser selbst eine umstrittene Persönlichkeit in der literarischen Welt der Moderne). Besonders interessant wird es in Schüttes Studie, wenn die Verehrung Sebalds für den absoluten literarischen Außenseiter Ernst Herbeck - den schizophrenen Dichter, der die meiste Zeit seines Lebens in der Psychiatrie verbracht hat - in den Mittelpunkt der Betrachtung gerät. Hier betritt Schütte in nicht geringem Maß interpretatorisches Neuland, indem er konstatiert, dass „Sebald die aus dem psychotischen dérangement resultierenden Deformationen der Sprache zunächst grundsätzlich als künstlerische Leistung affirmiert, anstatt sie als Krankheitssymptom zu diffamieren [...].“ (291) Die „mindere Literatur“ (288) Herbecks (wie auch Herbert Achternbuschs) steht in Sebalds essayistischem Werk der opportunistischen Prosa von Autoren wie Alfred Andersch klar überlegen gegenüber. Schütte arbeitet diesen Umstand in seiner monumentalen Studie eindrucksvoll heraus und präsentiert Sebald auf diese Weise als Intellektuellen, hinter dessen „außerordentlichen Literatur eine außergewöhnliche Literaturkritik“ steht. (619)

Natürlich lässt Schütte auch Sebalds eigenwillige Interpretation bekannter Werke namhafter Autoren nicht aus. Vor allem Sebalds intensive Beschäftigung mit seinem großen Idol Franz Kafka nimmt eine wichtige Stellung in Interventionen ein: „Ach wo er nicht über Kafka und dessen Texte selbst schreibt, taucht der Prager Schriftsteller auf als Referenzpunkt oder Maßstab, an dem Literatur gemessen wird.“ (206) Wichtig ist in diesem Fall insbesondere Sebalds totales Desinteresse am standardisierten akademischen Vorgehen. Schütte macht ferner darauf aufmerksam, dass Sebald wiederholt bewusst wichtige Quellenangaben ignoriert. In seiner Kafka-Interpretation ist dieser Umstand umso wichtiger, da sich Sebald auf die Forschungsergebnisse anderer Verfasser stützt, ohne diese namentlich zu nennen. Besonders eindrucksvoll führt Schütte dies anhand Sebalds Schloss-Aufsatz Das unentdeckte Land vor, indem er anführt, Sebalds Fund, das Wort „Landvermesser“ habe im Hebräischen (fast) dieselbe Bedeutung wie „Messias“, sei nichts weiter als eine „plagiatorische Übernahme“ eines Ergebnisses der Kafka-Studie Kafka and the Yiddish Theater von Evelyn Torton Beck. (216) An Beispielen wie diesem wird deutlich, dass Schütte einen eindeutig kritischen Blick auf seinen alten Lehrer wirft. Sebalds Eigenarten werden somit nicht ignoriert oder entschuldigt oder gar als Marotten eines eigenwilligen Künstlers abgetan - nein, die Tatsache, dass Sebald durch die Übernahme fremder Forschungsergebnisse zu glänzen suchte, weist den Autor in nicht geringem Maß als Karriereristen aus, dem es nicht zuletzt darum ging, sich als wortgewaltiger Intellektueller einen Namen zu machen und seinen festen Platz als origineller Interpret im zeitgenössischen Literaturbetrieb zu finden, auch wenn dies auf Kosten der Forschungsethik geschieht.

Neben handfesten literaturwissenschaftlichen Analysen gibt Schütte ferner bizarre Details aus Sebalds Leben preis, wie jenes, dass der Vegetarier Sebald auch seinen Hund vegetarisch ernährte. Kunstgriffe wie dieser tragen zur Auflockerung des enormen Texts bei, der durch diese Art des comic relief trotz seiner Länge und des oft pessimistisch-resignierenden Charakters der diskutierten Sebaldschen Essays kaum jemals ins Stocken gerät und langatmig wird, sondern den Leser neugierig auf mehr macht. Interventionen erweist sich somit als für Literaturwissenschaftler und Laien gleichermaßen geeignete Lektüre und ist ferner ideal für den Einstieg in Sebalds Werk wie auch die professionelle Beschäftigung mit wenig untersuchten Teilaspekten der Schriften des deutschen Exilautors.

Schütte gelingt es, das intrikate - vielverzweigte Werk Sebalds strukturiert zu analysieren und ein Gesamtbild des Œuvres herauszuarbeiten, welches dem interessierten Leser einen schnellen Zugriff zu Sebald als Person und als Autor ermöglicht. Auf stilistisch hohem Niveau präsentiert Schütte einen bisher unbekannten Sebald - einen Mann, dessen Facettenreichtum sich in seinem Werk - dem essayistischen wie dem prosaischen - widerspiegelt. Der Querdenker Sebald, der sich seit frühester Jugend bewußt zwischen alle Stühle gesetzt hat und später als Germanist mit seinen Essays gegen die etablierte deutsche Literaturwissenschaft anschreiben sollte, wird bei Schütte in ebenfalls zum Gegenstand einer kritischen Analyse, an deren Ende die Ambivalenz des schriftstellerischen Schaffens W. G. Sebalds - des streitbarsten Exilanten der späten deutschen Moderne ihre verdiente Wertschätzung erfährt.

Mit Interventionen hat Uwe Schütte eine wegweisende Studie zur Sebald-Forschung vorgelegt - ein durch profunde Textkenntnis bestechendes Grundlagenwerk für jede tiefergehende Beschäftigung mit Sebalds Werk, das die zukünftige Rezeption und Untersuchung von Sebalds Leben und Schriften maßgeblich beeinflussen wird.



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