Issue 21 (Summer 2023), pp. 29-58
DOI: 10.6667/interface.21.2023.212
Der Chronotopos der Migration bei W. G. Sebald
Chi-Chun Liu |
National Cheng Kung University |
Abstract
Die vorliegende Arbeit analysiert das Motiv der Auswanderung im Prosawerk W. G. Sebalds am Beispiel seines Erzählbandes Die Ausgewanderten. Der Fokus liegt dabei vor allem auf der Frage, wie Sebald hier die Erfahrung von Zeit in Form von Erinnerung durch die Beschreibung und Begehung von Orten literarisch sichtbar macht. Ausgehend von Bachtins Chronotopos-Theorie, der zufolge Zeit sich immer in räumlichen Strukturen wie Architekturen, Landschaften oder geografischen Formationen zeigt, soll ein Begriff des Chronotopos im Hinblick auf Sebalds Exilgeschichten umrissen werden. Anders als Bachtin ist bei Sebald jedoch in Bezug auf den Raum immer eine bestimmte Perspektive notwendig, die sich aus der randständigen Verortung und der genuinen Fremdheitserfahrung der Ausgewanderten ergibt. Aus einer Position des „nicht mehr“ und „noch nicht“ wird der Blick auf einen zeitlichen Verlauf freigegeben, der sich am Grad seiner Taktung messen lässt und der sich zwischen einer nicht getakteten, zerfließenden und einer radikal getakteten Zeit abspielt. Die Arbeit versteht sich in ihrer Ausführung weniger als Wegbereiter einer neuen Lesart seines Prosawerks als vielmehr als eine weiterführende Lektüre mit dem Ziel, einen bereits in der Forschung etablierten Diskurs weiter zu verfolgen.
Schlüsselbegriffe: W. G. Sebald, Michail Bachtin, Migration, Transitorische Räume, Spatial turn, Raumtheorie, Chronotopos, Neuere Deutsche Literatur, Literaturwissenschaft
English Abstract
This paper analyzes the motif of emigration in W. G. Sebald's prose work, focusing specifically on his collection of stories, "Die Ausgewanderten" (The Emigrants). The primary objective is to examine how Sebald renders the experience of time through the depiction and exploration of places, making it visible within the literary context. Drawing upon Bakhtin's theory of chronotope, which posits that time is always manifested within spatial structures such as architecture, landscapes, or geographical formations, the aim is to outline a concept of chronotope in relation to Sebald's exile narratives. However, unlike Bakhtin, Sebald's approach to space necessitates a specific perspective rooted in the marginalized positioning and genuine experience of otherness encountered by the emigrants. From a standpoint of "no longer" and "not yet," the gaze is directed towards a temporal progression measured by its pacing, oscillating between unregulated, fluid time and radically regulated time. This work does not seek to pave the way for a new interpretation of Sebald's prose, but rather aims to provide further insights within an already established scholarly discourse.
Keywords: W. G. Sebald, Mikhail Bakhtin, migration, transitory spaces, spatial turn, spatial theory, chronotope, modern German literature, literary studies
In W. G. Sebalds Prosawerk ist es hoch bedeutsam, wer sich wohin bewegt. Für ihn sind Wanderungen, Streifzüge, Reisen, Spaziergänge ständig wiederkehrende Motive. Die Figuren sind keine dezidiert romantischen Spaziergänger, sondern wie Ruth Klüger es zusammenfasst, Melancholiker, die ihrer Unruhe und Bestürzung über die Katastrophen der Geschichte in einer ebenso ruhelosen Reisetätigkeit Ausdruck verleihen (Klüger 2012).[1] Dass Sebalds Figuren sich immer wieder durch Landschaften und Orte bewegen, die melancholisch gezeichnet sind, ist dabei ein in der Forschung gängiger Topos.[2]
Migration und Auswanderung als Reflexion über Raum und Zeit bei W. G. Sebald in den Blick zu nehmen ist also kein neuer Ansatz, gibt es doch zu den Themen Raum, Bewegung und Zeit einige beachtliche Arbeiten. Zu nennen ist hier unter anderem Antje Tennenstedts Untersuchung zu Die Ausgewanderten und Austerlitz (Tennenstedt 2007). Tennenstedt vertritt die These, dass den von Sebald geschilderten Reisezielen und Orten eine eigene gedächtnisbildende Qualität zukommt. Erinnerung wird demnach durch das Aufsuchen sogenannter Gedächtnisorte erst reanimiert und als ein komplexes Geflecht von faktischem und fiktionalem Ereignis erfahrbar. Faktisch insofern es sich um reale Orte handelt, die keinen Zweifel an ihrer historischen Bedeutung offenlassen, die nicht selten eine gewaltvolle, beunruhigende Geschichte in sich aufbewahren. Fiktional, indem sie nicht selten halluzinatorische Episoden evozieren, in denen Realität und Fantasie verschwimmen.[3]
Ähnlich argumentiert Anne Fuchs, die sich dezidiert von einer psychoanalytischen Lesart absetzt, wie sie etwa bei Eva Juhl oder John Zilcosky zu finden sind.[4] Fuchs vertritt die These, dass den Reisen bei Sebald ein „Begriff von kultureller Erbschaft“ vorausgeht, dessen Funktion es ist, „Geschichte als Verlustgeschichte anschaubar zu machen“ (Fuchs 2008, S. 57). Die Orte, die Sebalds Protagonisten bereisen, sind von vorneherein geschichtlich codiert und damit Gedächtnisorte, wobei die Besonderheit darin besteht, dass es vorzugsweise solche Gegenden sind, an denen Gewaltverbrechen stattgefunden haben, wie z. B. das Fort Breendonk, die Bahnhöfe der Judendeportation, Theresienstadt, aber auch, wie man hinzufügen kann, der Standort der Neuen Nationalbibliothek in Paris:
Der Sebaldsche dunkle Tourist antwortet also dem bedrohlichen Sinnverfall im Horizont der Globalisierung und Hypermedialisierung der Welt mit seiner moralisch motivierten Begegnung mit geschichtsträchtigen Orten. Gerade aus dem Bezug auf solche Lokalitäten, an denen die europäische Geschichte als eine Geschichte der Gewalt und Zerstörung lesbar wird, gewinnt er einen Überschuss an Bedeutsamkeit, der, wie der Erzähler nicht müde wird zu betonen, seiner erinnerungslosen Gegenwart abhanden gekommen ist. (Fuchs 2008, S. 60)
Matthew Hart und Tania Lown-Hecht untersuchen in ihrem Aufsatz „The Extraterritorial Poetics of W. G. Sebald“ den Begriff Extraterritorialität. Dieser wird als Konzept eingeführt, das die charakteristischen Sebaldschen Themen von Identität, Zugehörigkeit und Exil umfasst. Hart und Lown-Hecht verstehen Extraterritorialität jedoch anders als viele Interpreten als einen mit politischer Bedeutung aufgeladenen Begriff, welcher die Problemfelder Souveränität, Territorium und Sprache betrifft, und in der Lage ist, die dazwischen errichteten ideologischen Verbindungen aufzubrechen (Hart / Lown-Hecht 2012).
Michael Niehaus argumentiert in vergleichbarer Richtung wie Anne Fuchs in Anlehnung an Marc Augés Konzept der Nicht-Orte. Die Anwesenheit eines Betrachters an diesen Durchgangsorten ruft vergangene Ereignisse auf und belebt die an sich geschichtslosen Orte dergestalt, dass sie sich in zeitgeschichtlich relevante „Gedächtnisorte“ transformieren (Niehaus 2013, S. 18f).
<Gerade die immer wiederkehrende Beschäftigung der Forschung mit dem Sujet des Wanderns, des Gehens, der Ortsveränderung im Allgemeinen bedeutet einerseits, dass dem Sujet in Sebalds Werk eine zentrale Stellung zukommt. Andererseits verrät uns diese Beobachtung aber auch, dass die Lektüre in dieser Richtung keinesfalls als abgeschlossen gelten kann. Die nachfolgende Arbeit versteht sich demgemäß als instruktive Ortsbegehung, die weniger versucht, Sebalds Prosa eine weitere Facette seines Raum-Zeit-Verständnisses abzuringen, – denn darum geht es im Kern bei den Beschreibungen der Reisen, Wanderungen, Spaziergänge sowie der Orte, an denen die Protagonisten nicht selten über ihre Erfahrung von Zeit reflektieren[5] – als vielmehr ausgewählte Motive herauszuarbeiten und für die weiterführende Lektüre gangbar zu machen. Ein genauerer Blick soll auf das Motiv des Auswanderns, allgemeiner der Migration in Sebalds Die Ausgewanderten geworfen werden. In den vier langen Erzählungen rekonstruiert der Ich-Erzähler die Auswanderungsbewegungen vier jüdischer Emigranten im Spannungsfeld von Heimat und Heimatlosigkeit.[6]
Die Migrationsgeschichten in Die Ausgewanderten sind aber keinesfalls als Herkunftsfolklore zu verstehen. Die darin verhandelten Fremderfahrungen der Exilanten wirft weniger die Frage nach dem Ursprung auf. Sie ist vielmehr ein Marker für eine in den Gegebenheiten des Exils widerständige Existenz, die in einer Zeiterfahrung verhaftet ist, die einerseits eine Ankunft unmöglich macht, die aber aufgrund dieser daraus resultierenden randständigen Positionierung in der Exilgesellschaft eine genuine Perspektivierung schafft.[7] Die Geschichten spielen sich im Wechsel von Bewegung und Stillstand ab und reflektieren damit nicht zuletzt die Taktung, der jeder Ort und die Bewegung dorthin untersteht.
1 Migration und Auswanderung
Das Verhältnis von Migration und Auswanderung muss vorweg erläutert werden. Der Begriff Migration hat seine etymologischen Wurzeln im lateinischen Wort „migratio“, das die Bedeutungen von „Wanderung“ oder „Auswanderung“ umfasst. Im historischen Kontext bezieht sich Migration auf die räumliche Bewegung von Menschen von einem Ort zum anderen, sei es innerhalb eines Landes oder über nationale Grenzen hinweg. Als terminologisches Konzept hat sich Migration im Laufe der Zeit zu einem weitreichenden und umfassenden Begriff entwickelt, der verschiedene Formen der menschlichen Bewegung abdeckt, sowohl freiwillige als auch erzwungene. Mehr als das ist Migration aber eine grundlegende menschliche Fähigkeit.
Sich räumlich zu bewegen ist eine „Wesenseigenheit“ des Menschen, ein Bestandteil seines „Kapitals“, eine zusätzliche Fähigkeit, um seine Lebensumstände zu verbessern. […] Dieselbe Eigenschaft lässt sich auch erklären als „Anpassungsfähigkeit“ des Migranten, auf Englisch fitness genannt. (Livi Bacci 2016, S. 8)
Migration verlangt den Migranten also gewisse biologische, logistische und kulturelle Fähigkeiten ab, die sie in besonderer Weise auszeichnen.[8] Wenn wir also im Folgenden von Migration sprechen, denken wir immer diesen Aspekt mit. Im Gegensatz dazu konzentriert sich der Begriff Auswanderung spezifischer auf den Akt des Verlassens des Heimatlandes und der dauerhaften Ansiedlung in einem anderen Land. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm heißt es hierzu „das verlassen des wohnorts, der heimat, um sich dauerhaft woanders (oft im ausland, bes. in übersee) anzusiedeln emigration, übersiedlung“ (Grimm, Bd. 3, Sp. 1580). Wenn Sebald also in der deutschen Fassung von den Ausgewanderten spricht, so kann man einen ersten Grund in der engen Verbindung des Begriffs Heimat mit dem der Auswanderung sehen.
Außerdem wird im Bild der Wanderung auch das Gehen als solches aufgerufen, dem eine entscheidende Bedeutung in Sebalds Werken zukommt. Gehen umfasst mehr als räumliche Fortbewegung. Nicht nur sind der Ich-Erzähler und fast alle Protagonisten notorische Wanderer und Spaziergänger, Gehen steht bei ihm zudem metaphorisch für Sprech-, Erinnerungs-, Denk- und Schreibakte und macht damit das zentrale Motiv in seinem Raumkonzept aus, wie Anna Seidl in ihrer Dissertation zum Thema unterstreicht.[9] In Die Ausgewanderten verbindet Sebald zudem das Thema Auswanderung dezidiert mit der peripatetischen Bewegung im Bild des Bergsteigers Dr. Henry Selwyn und des Wandervogels Paul Bereyter.[10]
Dem Gehen ist jedoch eine gewisse Widersprüchlichkeit zu eigen. Steht es einerseits für die peripatetische Hervorbringung von Sprache und Schrift oder der Erkundung von Erinnerungsräumen, so bringt es angesichts der auf der Wanderung erfahrenen allgegenwärtigen Katastrophe ein „befremdendes Gefühl der Machtlosigkeit“ (Seidl 2012, S. 48) hervor, das nicht selten in von Schwindelanfällen und Zusammenbrüchen erzwungenen Ruhephasen endet:
Der zyklische Wechsel von Wander- und Ruhephasen findet sich in allen Werken Sebalds und stellt die heilsame Verbindung von Melancholie und Peripatie her, der zufolge das Reisen und im Besonderen das Gehen ein Remedium depressiver Zustände ist. (Ebd., S. 49)
Wenn wir im Unterschied zu Sebald im Folgenden von Migration sprechen, dann nicht als Abgrenzung. Im Gegenteil ist es der Versuch, einen an die globalisierte Lebenswelt angepassten Begriff zu finden, der die Auswanderung mit einschließt und der aber sowohl die Ein- als auch die Auswanderung, im Grundlegenden aber die Wanderung zwischen Heimat und Fremde umfasst. Nicht zuletzt ist es auch der Versuch, einen Begriff zu finden, der sich über Sebalds Werk hinaus als Analysemodell eignet.
2 Chronotopos und das Bild vom Menschen
Was ist ein Chronotopos? Bachtin gibt auf diese Frage eine scheinbar einfache Antwort:
Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos […] bezeichnen. […] Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. (Bachtin 2017 [1986], S. 7)
Bachtin setzt den Begriff in Beziehung zur Einstein’schen Relativitätstheorie. Vereinfacht gesagt unterhält Zeit immer eine Relation zur Bewegung von Massen im Raum und ist damit eine relative und keine absolute Größe im Universum.[11] Er übernimmt den Begriff jedoch vor allem in einem metaphorischen Sinn.[12] Es geht ihm darum, wie eine Epoche ihre Vorstellung von Zeit in die Kunstform der Literatur überträgt. Was er damit zeigt, ist, dass die Auseinandersetzung mit Zeit in der Menschheitsgeschichte ihre Spuren in der Literatur hinterlässt und dass diese künstlerische Bearbeitung zur Herausbildung literarischer Genres geführt hat und immer noch führt. Die Auseinandersetzung mit Zeit im Roman unterstreicht die Rolle der Literatur als kollektives Gedächtnis. Zentral für unser Verständnis von Bachtins Theorie sind jedoch drei Dinge.[13]
Erstens: Der künstlerisch vorherrschende Chronotopos gibt immer auch ein Bild vom Menschen ab, welches sich die jeweilige Epoche macht. „Als Form-Inhalt-Kategorie bestimmt der Chronotopos (in beträchtlichem Maße) auch das Bild vom Menschen in der Literatur; dieses Bild ist in seinem Wesen immer chronotopisch“ (Bachtin 2017 [1986], S. 8.).
Zweitens: Chronotopoi entwickeln sich kontinuierlich weiter. Auch wenn Bachtin eine Reihe von genrebildenden Chronotopoi definiert, so ist für ihn die Herausarbeitung derselben ein unabgeschlossenes Projekt, das laufend erweitert und angepasst werden muss.[14]
Drittens: Ein Chronotopos hat Sujet-bildende Kraft, und als solcher erzeugt er einzelne Elemente und Motive im Roman, an denen sich die jeweils vorherrschende Idee von Zeit im Objekt ausdrückt. Michael C. Frank spricht daher zur besseren Unterscheidbarkeit von Makro- und Mikro-Chronotopoi.[15] Für uns wird vor allem Letzteres interessant, denn in unserer Lektüre von W. G. Sebald soll es um die Frage gehen, welche Vorstellung von Migration hier vorherrscht und welche raumzeitlichen Strukturen damit verbunden sind. Für Sebald spielen Chronotopoi eine durchaus wichtige Rolle, wenngleich er eine entscheidende Modifikation vornimmt, die Verena Olejniczak Lobsien herausgearbeitet hat. Ist für Bachtin der Chronotopos wesentlich metaphorisch zu verstehen, so ist bei Sebald eine literarisierte Form vorherrschend. Er „reliterarisiert ihn gleichsam zum Zeit-Ort, zum Chrono-Topos. […] Bei Sebald sind Chronotopoi nicht nur buchstäblich Zeit-Orte mit ihrer je besonderen kulturgeschichtlichen Spezifik, sondern insofern sie als Bauwerke bereits komplexe kulturelle Zeichen sind, zudem Semiotisierungen höheren Grades“ (Olejniczak 2004, S. 242). Damit entfernt sich Sebald von Bachtins ursprünglichem Verständnis und überträgt es in ein Modell der Vergegenwärtigung, ähnlich wie es Tennenstedt, Fuchs und Niehaus vorschlagen. Die bereisten Orte werden zu Schauplätzen, an denen sich ein bestimmtes geschichtliches Bild vom Menschen manifestiert, das sich aber nicht von selbst einstellt, sondern vom Betrachter zuallererst gelesen werden muss. Dies setzt einen „Leser“ voraus, der in der Lage ist, die dazu notwendige Perspektive einzunehmen. Diese ist, wie Moser schlüssig darlegt, „a perspective of extreme liminality“ (Moser 2010, S. 54). Das Sehen vom Rand her befähigt die Beobachter der Szene zugleich Teil und Nicht-Teil des geschichtlichen Schauspiels zu sein. Die Fremderfahrung der Auswanderer noch Teil eines früheren Lebens und doch davon abgetrennt zu sein und schon Teil eines neuen Lebens an einem fremden Ort und doch noch nicht zugehörig zu sein, macht sie zu prädestinierten Protagonisten für diese Perspektivierung. Der Chronotopos der Migration vereint also die Elemente einer genuinen Fremderfahrung mit einer liminalen Perspektive, um die Verknüpfung von Raum und Zeit zu veranschaulichen und so ein Bild vom Menschen aus der Erinnerung der Orte zu heben, das ansonsten im Dunkeln bleibt.
3 Räume und ihre Zeiten
Wanderungen und Auswanderungen, Spaziergänge und Reisen sind bei W. G. Sebald nie Selbstzweck. Fast immer geht dem Ich-Erzähler oder einer der Figuren eine Krise voraus, wenn sie sich auf den Weg machen. Es ist wichtig zu beachten, dass die Figuren in ihrer Bewegung nie anzukommen scheinen. Selbst an Orten, an denen sie glauben, ihr Ziel erreicht zu haben, sind sie häufig von Orientierungslosigkeit und großer Nostalgie geplagt.[16] Darüber hinaus halten sich die Ausgewanderten oft an sogenannten transitorischen Orten auf, die keinen dauerhaften Aufenthalt vorsehen.[17] Auf Bahnhöfen, in Wartesälen, in Vorzimmern und Gartenlauben, in Psychiatrie und Altensiedlungen fristen sie ihr Dasein oder befinden sich sogar auf einer scheinbar endlosen Reise. Dies ist bemerkenswert, da Sebald diesen Orten eine eigene Zeitlichkeit zuschreibt, die sich von der linearen Zeitmessung unterscheidet - jener Standardzeit also, die seit der Einführung der Eisenbahn den Takt der industriellen und postindustriellen Welt bestimmt.[18]
Sebald beschreibt die andere Zeit oft als zyklisch. Sie hat mehr mit den Wechseln der Jahreszeiten gemeinsam als mit dem Takt der Uhren, denen seine Protagonisten meist kritisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen. In seinem Roman Die Ringe des Saturn spricht Sebald daher von der zerfließenden Zeit im Gegensatz zur verstreichenden Zeit, die er abwertend als Opium betrachtet.[19] In der zerfließenden Zeit ist es möglich, verschachtelte Erinnerungen und geschichtliche Ereignisse zu erleben. Sie ermöglicht parallele Abläufe anstelle von chronologischen Abfolgen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese Durchgangsorte auch jene Räume betreffen, in denen die in seinen Texten oft beschworenen Toten wiederkehren und sich unter die Lebenden mischen.
Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebenden und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können, und je länger ich es bedenke, desto mehr kommt es mir vor, daß wir, die wir uns noch am Leben befinden, in den Augen der Toten irreale und nur manchmal, unter bestimmten Lichtverhältnissen und atmosphärischen Bedingungen sichtbar werdende Wesen sind. (A, S. 269)
Diese besondere Art, wie die Raumzeit hier beschrieben wird, erlaubt eine erste Feststellung: Die Auswandererfiguren und Exilanten sind bei Sebald nicht mehr in ihrer Heimat und noch nicht an einem Bestimmungsort angelangt. Das alte Leben hängt ihnen noch nach, oft als gespenstiges Dasein, eine Vorausschau ist oft getrübt von Nostalgie, die Gegenwart nimmt sich aus als Erfahrung der Deplatzierung. „Die Jahreszahlen und -zeiten wechselten […]“, heißt es dann auch folgerichtig in der Erzählung Paul Bereyter, „immer […] war man […] zirka 2000 km Luftlinie entfernt – aber wovon?“ (DA, S. 83) In Ambrose Adelwarth wird ein Onkel des Ich-Erzählers noch deutlicher:
Das ist der Rand der Finsternis, sagte er. […] I often come out here, sagte der Onkel Kasimir, it makes me feel I am a long way away, though I never quite know from where.“ (DA, S. 129)
4 Die idyllische und die katastrophische Zeit
Man sollte annehmen, dass Orte einer zyklischen Zeit idyllisch sind.[20] In Dr. Henry Selwyn existiert der Protagonist noch in einer traumhaften Gartenidylle, in der die Zeit praktisch nicht zu vergehen scheint. „I was counting the blades of grass […]“ (DA, S. 10f), erklärt Dr. Selwyn demgemäß den beiden Besuchern gleich zu Beginn und stellt damit bereits ein Zeitverständnis ins Zentrum, bei dem die Zeit sich schier unendlich ausdehnt, wobei der Raum, in dem sie zerfließt, klar umgrenzt und auf den Garten beschränkt ist. Die idyllische Zeit fällt demgemäß aus jeglicher Taktung heraus. Sie verstreicht nicht, sie zerfließt.
Dr. Selwyn ist nach seinen eigenen Aussagen „ein Bewohner des Gartens“ (DA, S. 11), seine Frau hingegen lebt im Haus, das mit seinen an frühere Dienstbotenverhältnisse erinnernden Zwischengängen und den erblindeten Spiegeln jedoch andere Zeiten in sich versammelt.[21]
„Der Garten ist seit der frühesten Antike ein Ort der Utopie“, heißt es bei Foucault, denn der Garten, – so die orientalische Idee dahinter - ist ein symbolisches Abbild des Universums.[22] Das Gärtnern steht zudem dem Schreiben nahe. Der Garten in Dr. Henry Selwyn trägt alle Anzeichen eines verzauberten Märchengartens.[23]
Die Idylle ist jedoch nur scheinbar, denn zum einen ist dieser Ort vom Verfall gezeichnet. Nicht nur die Gewächshäuser und der Küchengarten „sei[en] nach Jahren der Vernachlässigung am Erliegen, auch die unbeaufsichtigte Natur […] stöhne und sinke in sich zusammen unter dem Gewicht dessen, was ihr aufgeladen werde von uns“ (DA, S. 13). Die Verwilderung ist hier durchaus doppelbödig zu lesen. Sie steht allegorisch für das im Sterben befindliche Innere des Auswanderers Dr. Selwyn, sie lässt sich aber auch als Rückeroberung der Natur lesen und zeitigt damit ein Moment der Hoffnung. Zum anderen gehen der Idylle mehrere katastrophische Zeiten voraus, und so erweist sich dieser idyllische Raum eher als ein Zufluchtsort, an dem es jedoch keine Errettung, sondern eine immer wiederkehrende Einholung vergangener Zeiten gibt, die sich in den Erzählungen Dr. Selwyns zeigen.
Dr. Selwyn entdeckt dem Erzähler zufolge nämlich im weiteren Verlauf, dass sein Leben in England einem Unfall geschuldet ist. Als Siebenjähriger wandert er mit seiner Familie aus Litauen aus, mit dem Ziel, in Amerika sesshaft zu werden. Anstatt in New York kommt das Schiff der Auswanderer jedoch in London an. Diese Schwelle markiert die erste Krise in Dr. Selwyns Leben.[24] Die Zeit ist hierbei stark gerafft und verstreicht in wenigen Sätzen, obwohl der beschriebene Raum gedehnt erscheint – er erstreckt sich über London nach Cambridge bis in die Schweiz. Diese Krisenzeit scheint sogar von der übrigen biografischen Zeit abgetrennt zu sein, bis die nächste Idylle eintritt, auf der wieder ein besonderer Fokus der Erzählung liegt.[25] Im Berner Oberland verbringt Dr. Selwyn die meiste Zeit mit dem Bergsteigen. Dort lernt er den Bergführer Johannes Naegeli kennen. Er habe sich, wie es im Text heißt, „weder zuvor noch später, derart wohl gefühlt, wie damals in der Gesellschaft dieses Mannes“ (DA, S. 24). Hier beginnt eine Kaskade von Reisezielen in den Hochalpen. Der Raum scheint also wieder auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt zu sein, wenngleich die Zeit, die vergeht, sich nicht im selben Maße zu dehnen vermag, wie es beim Zählen der Grashalme noch angezeigt war. Die nachfolgende Krise wird also bereits in der zeitlichen Konstellation vorweggenommen. Die Bergidylle hat keinen dauerhaften Bestand und reiht sich ein in die Liste der transitorischen Räume, die Sebalds Werke wie ein Netzwerk von Knotenpunkten durchziehen.
Die Krisenzeit bricht auch prompt herein. Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Tod des Bergführers Naegeli, der im Berner Oberland in einer Gletscherspalte verunglückt und seitdem verschollen ist, stürzt Dr. Selwyn in eine tiefe Depression. Weiter heißt es: „Die Jahre des zweiten Krieges und die nachfolgenden Jahrzehnte waren für mich eine blinde und böse Zeit, über die ich, selbst wenn ich wollte, nichts zu erzählen vermöchte“ (DA, S. 35). Der Verlust des Gedächtnisses und die Schwierigkeiten des Erinnerns sind ebenfalls Motive, die alle Erzählungen in Die Ausgewanderten durchziehen. In Paul Bereyter ist es der Ich-Erzähler, der versucht, hinter dessen ihm „unbekannte Geschichte zu kommen“ (DA, S. 42), während alle „Versuche der Vergegenwärtigung“ in gewissen „Ausuferungen des Gefühls“ sich verlieren, die ihm aber als „unzulässig“ (DA, S. 45) erscheinen. In Ambrose Adelwarth markiert der Verlust des Gedächtnisses gar den scheinbar erlösenden Endpunkt einer lebenslangen Leidensgeschichte. In Max Ferber heißt es sogar:
„Aus welchem Grund genau und wie weit sich die Lagune der Erinnerungslosigkeit in ihm ausgebreitet habe, das sei ihm trotz angestrengtesten Nachdenkens darüber ein Rätsel geblieben. (DA, S. 256)[26]
Angesichts einer nicht mehr zu reparierenden Katastrophe scheint dieses Zeitverständnis eine weitere Doppelbödigkeit in seinen Werken zum Ausdruck zu bringen. Das Vergessen ist teils strategisch. Sich der Zeiterfahrung zu entziehen und tatsächlich so etwas wie Erlösung zu finden, ist ein erstrebenswertes Ziel, das Zählen der Grashalme gehört hierzu, aber auch die Elektroschocktherapie, der sich Ambrose Adelwarth unterzieht. Die „Lagune der Erinnerungslosigkeit“ hingegen gleicht einem Naturphänomen oder einer auf äußere Gewalt zurückgehenden Erfahrung. In Austerlitz wird das besonders augenscheinlich im Ladies Waiting Room.[27] Die Erzählung von Dr. Selwyn endet denn auch folgerichtig in einer doppelten Bewegung, die den Ich-Erzähler in Form zweier Nachrichten erreicht.
Dr. Selwyn nimmt sich am Ende das Leben und zur selben Zeit treten die sterblichen Überreste des Bergführers Naegeli wieder zutage. Der Ich-Erzähler kommentiert: „So kehren sie wieder, die Toten. Manchmal nach mehr als sieben Jahrzehnten kommen sie heraus aus dem Eis und liegen am Rande der Moräne, ein Häufchen geschliffener Knochen und ein Paar genagelter Schuhe“ (DA, S. 37).
Halten wir fest, dass Migration hier als von traumatischen Zeiten geprägter Chronotopos erfahren wird, der zwar Räume der Ruhe und der Möglichkeit aufweist, diese jedoch vor allem als Zuflucht vor den persönlichen und politischen Ereignissen der Geschichte fungieren. Ein bestimmendes Moment hiervon ist das Vergessen, das aber auch immer wieder durch die unvermittelte Wiederkehr des Erinnerns unterbrochen wird. Wenn es keine Heimat und keinen Ankunftsort im Chronotopos der Migration gibt, wenn Nostalgie, Melancholie und Verdrängung die vorherrschenden Motive sind, so kann man diesen Chronotopos als eine zyklisch strukturierte Raumzeit begreifen.
5 Paul Bereyter – Die innere und die äußere Zeit
Die Erzählung über den titelgebenden Lehrer, der als Vierteljude während der Naziherrschaft an der Ausübung seines Berufes gehindert wurde und der am Ende der Geschichte viele Jahre später Selbstmord begeht, weist eine zweiteilige Struktur auf. Dieser Umstand ist unter dem Gesichtspunkt einer raumzeitlichen Untersuchung bemerkenswert.
Im ersten Teil versucht der Ich-Erzähler, hinter die Geschichte des bei den Bewohnern des Städtchens S. als exzentrisch und fremd geltenden Mannes zu kommen. Für die Bewohner von S. markiert die Figur den Abwesenden, damit exterritorialen Protagonisten, der zu einem großen Teil als nicht der Gemeinschaft angehörig verstanden wird, obwohl er schon immer als Teil dieser Gemeinschaft gelten muss.[28] Die Figur des inneren Ausschlusses drängt sich bei dieser Lesart geradezu auf und rückt die Figur damit in die Nähe des Schriftstellers als prototypischem Vertreter des Schrifttums. Die folgende Beschreibung der Schulzeit ist klar auf den Ort S. und die umliegende Natur sowie auf das Klassenzimmer begrenzt, wobei Letzteres, wie der gesamte Passus, von Vokabeln des Äußeren geprägt ist. Die Fenster des Klassenzimmers wurden „sperrangelweit“ aufgerissen, der Lehrer hält sich oft in der Fensternische auf, „halb dem Draußen zugewandt“, und er redet „von dieser peripheren Position zu uns herüber“ (DA, S. 52). Auch der Unterricht selbst findet zu einem Großteil im Freien „draußen im Schulhof“ statt, und er versucht „bei jeder Gelegenheit […] aus dem Schulhaus hinauszugehen und im Ort möglichst viel in Augenschein zu nehmen“ (DA, S. 57). Wir erfahren schließlich, dass Paul Bereyter der Wandervogel-Bewegung angehört. Dieser Hinweis bringt zumindest zweierlei zum Ausdruck. Erstens handelt es sich also um einen Charakter, der eine Alternative zur bürgerlichen Schulform befürwortet, also auch eine Gesellschaftsform, die sich vor allem außerhalb der architektonischen Manifestationen von Bürgertum und Gesellschaft verortet und einen prägenden romantischen Zug hat. Zugleich nimmt der Hinweis die Aneignung durch den Nationalsozialismus vorweg und berührt damit ein Thema, das im Fortgang der Geschichte noch bedeutend sein wird.[29] Trotz seiner körperlichen Anwesenheit macht er den Eindruck, als sei er „abseits und abwesend“ und „in Wahrheit die Untröstlichkeit selber“ (DA, S. 62). Es fällt auf, dass die erzählte Zeit hier lediglich die beiden Schuljahre umfasst, in denen der Ich-Erzähler sich in der Obhut des Lehrers befindet. Wenngleich die zeitlichen Verhältnisse nicht übermäßig gerafft erscheinen, so befinden wir uns dennoch in einem zeitlich überschaubaren Rahmen, der relativ detail- und anekdotenreich beschrieben wird. Raum und Zeit stehen hier in einem ausgeglichenen Verhältnis zueinander, was den Anschein erweckt, dass wir es mit einem eher statischen Zustand zu tun haben: die Ereignislosigkeit der Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg, die Nachkriegsordnung der 1950er-Jahre, die biedere deutsche Landbevölkerung, all das wirkt stagnierend, und doch scheint für den Erzähler in dieser Konstellation ein Moment idyllischer Zeit auf, die vor allem mit der Erziehung durch den Lehrer Bereyter zu tun hat. Wohlgemerkt geht es hier um den Eindruck, den der Erzähler hat, denn auch dieser nimmt den Lehrer nur aus der Außenperspektive wahr und befindet sich selbst in relativ geordneten Verhältnissen.
Was es mit der Untröstlichkeit dessen auf sich hat, erfährt der Leser dann in der zweiten Hälfte der Geschichte, die sich mit dem privaten inneren Teil Paul Bereyters beschäftigt und die sich als Nacherzählung der Ereignisse kurz vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt.
In der Erzählung der Mme. Landau haben wir es mit einer indirekten Nacherzählung zu tun. Der Ich-Erzähler berichtet, was Mme. Landau von Paul Bereyter vor dessen Tod von ihm erfahren hat. Indirekt bedeutet hier vor allem eine zusätzliche Entfernung von der Figur, die paradoxerweise den Zugang zu deren Innenleben eröffnet. Räumlich sind wir ebenfalls weit entfernt von der Heimat Bereyters. Mme. Landau lebt in der Schweiz, genauer in Yverdon, in einer kleinen Villa am See. Wir befinden uns also drinnen, abseits der Heimat und erfahren im weiteren Verlauf, dass der Lehrer hier in Yverdon die letzten Jahre seines Lebens zugebracht hat. Der Leser erfährt weiter die näheren Umstände seiner Suspendierung vom Lehrerberuf, den damit einhergehenden Verlust der Helen Hollaender aus Wien, von der Emigration nach Frankreich als Hauslehrer, dem Tod der Eltern und der Übervorteilung der Familie durch die Bürger von S. und deren systemischen Faschismus, schließlich von der Einberufung Bereyters in den Krieg. Besonders die Rückkehr nach Deutschland vor dem Kriegsende und die Rückkehr nach S. nach dem Ende der Naziherrschaft wird im Roman als „Aberration“ (DA, S. 83) beschrieben, als eine Abweichung von der Norm, die mit einer grundlegenden, jedoch destruktiven Heimatverbundenheit erklärt wird (vgl. DA, S. 84). Hier wird ein weiteres Mal die eigentliche Frage der Erzählungen hervorgehoben, warum einer die Heimat verlässt und wie weit er sich davon entfernt. Wie bereits in Dr. Henry Selwyn wird in Form des Gartens ein Ort der Idylle in die Erzählung eingeführt, und ähnlich wie in jener Geschichte wird auch hier eine idyllische Zeit in den Vordergrund gestellt, die die katastrophische Zeit kontrastiert.
„Jeden Nachmittag, wenn das Wetter es zuließ, sagte Mme. Landau, ist Paul im Garten beschäftigt gewesen, und zwischenhinein ist er lange einfach irgendwo gesessen und hat in das um ihn herum sich vermehrende Grün hineingeschaut.“ (DA, S. 85)
Abgesehen von dieser Einlassung finden wir jedoch eine Zeitstruktur vor, die von Sprüngen, Raffungen, Dehnungen und Zeitverschiebungen gekennzeichnet ist und eine innere Unruhe und ein grundlegendes Unbehagen zum Ausdruck bringt, das schließlich in Bereyters exzessiver Beschäftigung mit berühmten Selbstmördern kulminiert und sich nicht zuletzt auch in den handschriftlichen Exzerpten ausdrückt: „Hunderte Seiten hat er exzerpiert und großenteils in Gabelsberger Kurzschrift, weil es ihm sonst nicht geschwind genug gegangen wäre, und immer wieder stößt man auf Selbstmordgeschichten“ (DA, S. 86). Er kommt schließlich zu der Einsicht, dass er „zu den Exilierten und nicht nach S. gehörte“ (DA, S. 87). Symbolisch steht am Ende die Auflösung der Wohnung in S. als Abschluss eines lebenslangen Prozesses, der zwischen äußerer und innerer Distanzierung und Wiederannäherung an die Heimat oszilliert. Mit der Ablösung der Wohnung kommt der Prozess der Migration zu seinem Endpunkt, die endgültige Einsicht in das Exil, in eine auf Dauer gestellte innere wie äußere Heimatlosigkeit.
Für den Chronotopos der Migration bedeutet das, dass die sozialen und inneren Erfahrungen immer auf eine Unabgeschlossenheit verweisen. Migration findet in dieser Geschichte als eine Kreisbewegung um die Ränder der Heimat herum statt, von denen aus sich die Perspektive auf deren innere Zusammenhänge eröffnet. Zeitlich umfasst sie eine Lebensgeschichte. Die katastrophischen Motive sind zwar tragisch, anders als in der Tragödie fällt der Held jedoch nicht seiner Hybris oder den äußeren Umständen zum Opfer, sondern wählt den Ausgang selbst, indem er in den Freitod geht. Der Chronotopos der Migration birgt in dieser Ausgestaltung also ein zutiefst selbstbestimmtes Moment.
6 Die vergessene Zeit – Ambrose Adelwarth
Dass vor allem der Wechsel von Erinnerung und Vergessen eine besondere Art der Taktung hervorbringt, wird in Ambrose Adelwarth deutlich. „Ich habe kaum eine eigene Erinnerung an meinen Großonkel Adelwarth“, heißt es ganz am Anfang der Geschichte. Und dieses Vergessen zieht sich programmatisch durch die Erzählung. Am Ende steht der Satz:
Die Erinnerung […] kommt mir oft vor wie eine Art von Dummheit. Sie macht einen schweren, schwindligen Kopf, als blicke man nicht zurück durch die Fluchten der Zeit, sondern aus großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren. (DA, S. 214)
Damit ist der Rahmen gesetzt für eine jener Nachforschungen, die die Werke Sebalds so häufig strukturieren.[30]
Das Konzept der Migration als Chronotopos ist in der Erzählung Ambrose Adelwarth integraler Bestandteil der narrativen Struktur. Sebald setzt sich inhaltlich mit der Entfremdung seiner ausgewanderten Verwandten auseinander und gibt Einblicke, wie dieses Thema durch Zeit und Raum beeinflusst wird. Der Ich-Erzähler berichtet von seinen Verwandten, die noch vor seiner Zeit nach Amerika übergesiedelt sind, um sich beruflich besserzustellen. Er macht sich viele Jahre nach dem Tod seines Großonkels auf Spurensuche dorthin, um den Lebensweg dieses ihm praktisch unbekannten Mannes zu rekonstruieren, der als Butler einer reichen jüdischen Familie von Amerika aus den Sohn der Familie auf seinen exzentrischen Eskapaden rund um die Welt begleitet.
Es ist von großer Bedeutung, dass neben der Bewegung im Raum auch zeitliche Bewegungen eine Rolle spielen, insbesondere in Form von Reminiszenzen an vergangene Tage, die den Leser mit wichtigen Informationen über die Gegenwart versorgen, insbesondere über eine ständig präsente Verlusterfahrung, die sich in den Erinnerungen an eine bereits vergangene bessere Zeit manifestiert. Die Nacherzählungen liefern aber nicht nur für das Verständnis der Vergangenheit wichtige Hinweise, sie machen auch deutlich, welch zentrale Rolle Erinnerungen für das gegenwärtige Selbstverständnis spielen.
Schon der Weg in die Altensiedlung, in der seine letzten noch lebenden Verwandten Tante Fini und Onkel Kasimir ihr Dasein fristen, trägt die Anzeichen einer Zeitreise. An einem „Riesengebirge aus Müll“ kommt er vorbei, hinter dem ein „Jumbo wie ein Untier aus ferner Vorzeit“ sich hervorhebt. Wieder führt uns der Ich-Erzähler in eine unwirtliche Gegend, in der es nichts gibt als „[…] Krüppelholz, verwachsenes Heidekraut und von ihren Bewohnern verlassene, teils mit Brettern vernagelte Holzhäuser, umgeben von zerfallenen Gehegen […]“ (DA, S. 105). Erinnerung, so wird es uns hier einmal mehr vor Augen geführt, spielt sich immer an einem Ort des Zerfalls oder inmitten von Ruinen ab. Zumindest aber hat sie archäologischen Charakter. Inmitten dieser surrealistischen Szene steht die Altensiedlung Cedar Glen, die im Kontrast zur prähistorischen Umgebung „streng nach den Grundsätzen der Geometrie“ (DA, S. 106) angeordnet ist und in dieser Beschreibung einem Archivregister nahekommt. Der Bericht aus der Vergangenheit, den die Tante Fini dem Ich-Erzähler gibt, gleicht demgemäß auch einem Register, das sich vor allem auf die berufliche Geschichte der Auswanderer bezieht und diese aufs Arbeitsleben fokussierte Perspektive nimmt in der ersten Hälfte der Erzählung eine zentrale Stellung ein. Nicht nur die des Großonkels, auch die Lebensgeschichten aller anderen Auswanderer werden vor allem als eine Aneinanderreihung von Positionen im Arbeitsleben vorgetragen. Im Modus des „und dann“ vorgetragen, wird deutlich, dass das Leben der Auswanderer vollkommen der Taktung unterliegt.
Der amerikanische Traum von einem besseren Leben entpuppt sich also als eine dem kapitalistischen System untergeordnete Existenzform, die zwar Möglichkeiten persönlicher Subsistenz schafft, die Identität des Einzelnen aber vollkommen in die Logik der arbeitsteiligen Welt und damit einer Monetarisierung der Arbeitskraft und einer Eingliederung in den Rhythmus der Stechuhren integriert. Die Zeit, die hierbei vergeht, ist stark gerafft, wohingegen der Raum wiederum weit voneinander entfernt liegende Orte umfasst: von Montreux über New York bis nach Japan in die Idylle eines fast leerstehenden Wasserhauses. Vieles in der Geschichte wirkt wie eine Aufzählung, denn mit dem Ende dieses Arbeitslebens endet auch die Erinnerung. Leben und Arbeit sind in den Erzählungen des Onkels Kasimir ein und dasselbe. Daher ist für ihn auch die Geschichte des Ambrose Adelwarth von besonderer Bedeutung, denn dessen Arbeitsleben, seine „legendäre Vergangenheit“ (DA, S. 127), nimmt in der Nacherzählung durchaus fantastische und teilweise traumartige Züge an: „Von diesem Platz aus erzählte er viele absonderliche Geschichten, von denen ich fast alle vergessen habe“ (DA, S. 149), gibt die Tante Fini zu Protokoll. Ambrose selbst zieht sich schließlich nach langer Depression in die Nervenheilanstalt Samaria zurück, um sich dort einer „möglichst gründlichen und unwiderruflichen Auslöschung seines Denk- und Erinnerungsvermögens“ (DA, S. 167) zu unterziehen.
Auch die Gebäude selbst, vor allem die Hotels, verlieren ihre einst prunkvolle Geschichte und werden aus gegenwärtiger Perspektive als Orte geschildert, die entweder nur noch von schemenhaften Wesen bevölkert sind, dem Verfall preisgegeben wurden oder bestenfalls noch als Karikatur eines vormals goldenen Zeitalters dienen. Es gibt also durchweg die Tendenz, eine frühere idealisierte Zeit zwar vorauszusetzen, eine Erinnerung daran soll jedoch nicht fortbestehen. Sie besteht bestenfalls in nacherzählten Fragmenten und wird idealerweise getilgt. Hierin wird ein weiteres wichtiges Zeitmotiv von Sebald anschaulich. Die zerfließende Zeit ist trotz aller Naturromantik, die Sebald ihr an verschiedenen Stellen seines Werkes zuerkennt, eine zerstörerische und katastrophische Kraft, der nichts standzuhalten vermag, auch die eigene Erinnerung nicht.
Was trägt diese Erkenntnis zum Chronotopos der Migration bei? Es gibt eine Tendenz, die Identität, die besonders bei den Auswanderern mit der Herkunft und dem Arbeitsleben in Verbindung zu stehen scheint, auszulöschen: „Je älter der Adelwarth-Onkel geworden ist, desto hohler ist er mir vorgekommen, und wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe, […] war es, als werde er bloß noch von seinen Kleidern zusammengehalten“ (DA, S. 129). Und weiter hinten in der Erzählung steht zu lesen: „Rückblickend kann man sagen, dass er gar nicht existiert hat als Privatperson […].“ (DA, S. 144)
7 Die Restzeit. Nach der Apokalypse
Nun ist es bei Sebald nicht einfach so, dass die Figuren ständig in Bewegung sind. Sie haben teilweise sehr wohl einen Ort, an dem sie sich aufhalten. Selbst dort, wo eine Art Ankunft umrissen wird, wie in Max Ferber, wird diese Ankunft aber als eine unmögliche Situation geschildert. Manchester, wo sich das Atelier des Künstlers befindet, wird als eine Stadt beschrieben, die entvölkert erscheint und nunmehr ausschließlich aus Industriebrachen besteht. Die wenigen Figuren, die in dieser Stadt auftauchen, sind geisterhaft und gleichen eher Schemen. Oder sie tauchen, wie z. B. im Fall von Mrs. Grace Irlam im Hotel Arosa, so punktuell auf, dass sie kaum als Folie für das Großstadtleben herhalten können.
Auch das Studio von Max Ferber ist ein im Grunde unmöglicher Ort, an dem er Tag um Tag seiner Arbeit nachgeht. Dieser in staubiges Zwielicht getauchte Raum, das „in den Ecken angesammelte Dunkel“ (DA, S. 233f) und seine überfrachteten Ränder bilden einen ganz und gar lebensuntauglichen Zirkel, in dessen Mitte sich die Staffelei befindet. Die Arbeit, der Ferber nachgeht, trägt zudem die Merkmale des Scheiterns:
Da er die Farben in großen Mengen aufträgt und sie im Fortgang der Arbeit immer wieder von der Leinwand herunterkratzt, ist der Bodenbelag bedeckt von einer im Zentrum mehrere Zoll dicken, nach außen allmählich flacher werdenden, mit Kohlenstaub untermischten, weitgehend bereits verhärteten und verkrusteten Masse, die stellenweise einem Lavaausfluß gleicht und von der Ferber behauptet, das sie das wahre Ergebnis darstelle seiner fortwährenden Bemühungen und den offenkundigsten Beweis für sein Scheitern. (DA, S. 235)
Scheitern darf hier nicht als Wertung verstanden werden. Es ist mehr ein Versuch, für etwas ein Maß zu finden, das sich im Grunde als nicht messbar erweist.
Max Ferber selbst scheint zudem keine Wohnung zu besitzen. Man erfährt gegen Ende der Erzählung, dass er sich gelegentlich ein Zimmer nimmt. In den Phasen, in denen er seine Arbeit unterbricht, hält er sich im Wadi Halfa auf, einer illegalen Küche, um dann, wie er selbst sagt, zu seiner „nur in den Stunden der Nacht zum Stillstand kommenden Staubproduktion“ (DA, S. 236) zurückzukehren. Die Metapher der Staubproduktion erinnert an die Hochphase des Industriekapitalismus in Manchester im 19. Jahrhundert. Die Arbeit des Malers wiederholt als Kunst, was die industrielle Revolution auf den Weg brachte. Diese, genauso wie jene, sind ausgerichtet auf ihr Fortbestehen als Ruine, als Zeugen einer Katastrophe, die bereits irreversibel stattgefunden hat. Der zeitliche Modus ist demgemäß auch eine Zeit der extremen Dehnung. Es gibt zwar Sprünge im Erzählgeschehen, zum Beispiel wenn Ferber von seinem Erlebnis am Genfer See und der Erscheinung des Schmetterlingsfängers berichtet. Daher wiederholt auch der schwarze Bodenbelag im Künstleratelier, was mit den „im Verlauf der Zeit ganz und gar schwarz gewordenen Monumentalbauten“ (DA, S. 228) geschehen ist: eine Verfestigung. An die Stelle des schlussendlichen Verfalls tritt der Rest eines Produktes.
Max Ferber, der sich außerstande sieht, Manchester zu verlassen, dem aber auch die Rückkehr in seine deutsche Heimat versperrt ist, füllt diesen Limbo mit einer Variation eben jener Abfallmasse an, mit der dereinst die Fabrikschornsteine die Stadt in ihre schwarze Patina tauchten. Der Kohlestaub wird zum Sinnbild und zur Wiederholung des Rußes aus den Schornsteinen.
Der Auswanderer steht in diesem Sinne für einen Rest, den eine Gesellschaft in ihr Kalkül aus Warenproduktion und kapitalistischer Verausgabung nie bewusst einbezieht, der aber gleichzeitig durch die Unmöglichkeit anzukommen, eben jene Lücken füllt, die vom gesellschaftlichen Versprechen einer besseren, von Wohlstand geprägten Welt ignoriert wird. Sein Aufenthalt in Manchester beschreibt eine ununterbrochene Wiederholung. Diese Einschätzung teilt die Figur Max selbst mit:
[…] [O]bwohl ich mich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg gemacht hatte, bei meiner Ankunft in Manchester sozusagen zu Hause angelangt [bin], und mit jedem Jahr, das ich seither zugebracht habe zwischen den schwarzen Fassaden dieser Geburtsstätte unserer Industrie, ist es mir deutlicher geworden that I am here, as they used to say, to serve under the chimney. (DA, S. 283)
Für den Chronotopos der Migration bedeutet dies, dass er bei Sebald immer ein Randphänomen ist. Dieser Rand oder Rest zeitigt aber durchaus eine Wirkung, die die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus prägt. Die Ablagerungen auf den verschiedenen Oberflächen sind visuelle Zeugen hiervon. Migration in ihrer zeitlichen und räumlichen Struktur findet niemals als zentrales Ereignis statt, sondern wird den herrschenden Verhältnissen und deren Taktung untergeordnet.
8 Zusammenfassung
Es fällt auf, dass die Geschichten sich in einer aufsteigenden Reihe befinden. In Dr. Henry Selwyns Geschichte existiert der Protagonist noch in einer traumhaften Idylle. Seine Sehnsucht richtet sich genau darauf, diesen Zustand als eine Lebensform zu verdichten. Dieses Vorhaben scheitert, und am Ende steht der Selbstmord. In Paul Bereyter befinden wir uns zwar noch in einer Welt, die an sich die Züge einer idyllischen Zeit bewahrt hat, die aber von den politischen Umständen in die Taktung des Hitlerregimes und des Krieges gezwungen wurde und ebenfalls im Selbstmord endet. Heimat erscheint hier bereits als etwas Kontaminiertes, in dem die Notwendigkeit des Auswanderns im Inneren angelegt ist. In Ambrose Adelwarth existiert dieser idyllische Zustand nur noch als die Erinnerung an eine Zeit, die niemals die des Protagonisten war. Dieser lebt zusammen mit Cosmo in der Illusion, man könne sich außerhalb der Taktung moderner Zeiten aufhalten. Mit der Einsicht, dass dies nicht mehr möglich ist und die Rückkehr in eine andere Raum-Zeit-Erfahrung versperrt bleibt, hat der Protagonist nur noch die Möglichkeit, die Erinnerung an diese Versuche restlos zu tilgen, also der zerfließenden Zeit die strikte Taktung der Elektroschocktherapie entgegenzuhalten. Die Aufzeichnungen dieses Selbstmordes existierten in einer kurz vor dem Kollaps befindlichen Ruine. In Manchester schließlich, dem Wirkungsort von Max Ferber, sind wir bei den Zeugen einer absoluten Zeittaktung angelangt. Hier ist der Ort, an dem eine idyllische Zeit selbst in der Kunst als letztem Zufluchtsort undenkbar geworden ist. Das Exil ist hier absolut an den Rand gedrängt und eine Spurensuche kann sich nur noch in einer von der Katastrophe aufgezehrten raumzeitlichen Erfahrung abspielen.
So wie Sebald Migration als Motiv betrachtet, steht diese immer in einem raumzeitlichen Verhältnis zur sie umgebenden Welt. Dabei entstehen – metaphorisch gesprochen – Gravitationsfelder der Zeiterfahrung, von denen besonders diejenigen ins Auge stechen, die sich zwischen Abreise und Ankunft abspielen. Diese sind sogar derart strukturiert, dass von einer Ankunft nicht die Rede sein kann, vielmehr von einer paradox auf Dauer gestellten Zwischenzeit. Die Auswanderer sind nicht mehr in ihrer Heimat, aber noch nicht am Ort ihrer Ankunft. Man kann sogar behaupten, dass sie diesen Zielort niemals erreichen und ihn eher als Utopie denn als realen Ort wahrnehmen. Krisen- und idyllische Zeiten wechseln sich in diesem Zwischenreich ab, jedoch kann von einer Idylle nur entfernt die Rede sein. Alles, was idyllisch ist, trägt vielmehr die Anzeichen eines Zufluchtsorts und ist demnach immer vom Einbruch einer Katastrophe bedroht, sei es in Form äußerer politischer Umstände oder persönlicher Schicksalsschläge, immer jedoch als Hervortreten der Erinnerung oder, um es mit Sebald zu sagen, als Wiederkehr der Toten. Um die Katastrophe von diesem Zufluchtsort fernzuhalten, entwickeln die Auswandererfiguren eine Dynamik des Vergessens und Erinnerns. Die Entwicklung dieser Strategie ist zwar eine von den Umständen erzwungene, sie ist aber nicht, wie man annehmen könnte, tragisch. Im Gegenteil trägt sie Momente von Selbstbestimmung und Identität in sich. Dennoch hat Migration hier immer einen endgültigen Zug und ererbt damit einen Rest oder ein Überbleibsel, an das es sich adaptiert. Diese Adaption ist jedoch nicht künstlich oder künstlerisch im engeren Sinne, sondern eine Wiederholung der örtlichen Gegebenheiten und ein Versuch der Anpassung an den Raum der vermeintlichen Ankunft. Um W. G. Sebald zuletzt das Wort zu geben, kann man den Chronotopos der Migration wie folgt zusammenfassen: „[…] das schmerzliche Gefühl der Bindung an das, wovon man sich unwiderruflich schon abgetrennt weiß“ (UH, S. 41).
Literaturangaben
Von W. G. Sebald
W. G. Sebald (2013 [1990]): Schwindel. Gefühle. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Im Text zitiert als SG.
W. G. Sebald (2002 [1992]): Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Im Text zitiert als DA.
W. G. Sebald (2012) [1991]: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Im Text zitiert als UH.
W. G. Sebald (2015 [1995]): Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. 13. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Im Text zitiert als RdS.
W. G. Sebald (2015 [2001]): Austerlitz. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Im Text zitiert als A.
W. G. Sebald (2015 [2011]): „Auf ungeheuer dünnem Eis“. Gespräche 1971 bis 2001, hrsg. von Torsten Hoffmann, 4. Auflage. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. Im Text zitiert als AuE.
Weiterführende Literatur
Bachtin, Michail (2017 [1986]): Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, 4. Auflage. Berlin: Suhrkamp Verlag GmbH & Co. KG.
Ceuppens, Jan (2017): „Die Ausgewanderten.“ In: W. G. Sebald Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, hg. Claudia Öhlschläger / Michael Niehaus. Stuttgart: J. B. Metzler, S. 29–38.
Frank, Michael C. (2015): „Chronotopoi.“ In: Handbuch Literatur und Raum, hrsg. von Jörg Dünne und Andreas Mahler. Berlin / Boston: Walter de Gruyter, S. 160–169.
Frey, Angelika (2017): Zeitenwende – Wende zur Zeit? Raumzeitstrukturen bei Helmut Krausser, Christoph Ransmayr und W. G. Sebald. Würzburg: Verlag Könighausen & Neumann GmbH.
Fuchs, Anna (2008): „Von Orten und Nicht-Orten. Fremderfahrung und dunkler Tourismus in Sebalds Prosa.“ In: Irene Heidelberger-Leonard, Mireille Tabah (Hg.): W. G. Sebald. Intertextualität und Topographie. Berlin: LIT Verlag, S. 55–71.
Giesecke, Hermann (1981): Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend. Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik. München: Juventa-Verlag.
Hart, Matthew / Lown-Hecht, Tania (2012): “The Extraterritorial Poetics of W. G. Sebald.” In: MFS Modern Fiction Studies, Volume 58, Number 2, Summer, S. 214–238.
Juhl, Eva (1995): „Die Wahrheit über das Unglück. Zu W. G. Sebald, Die Ausgewanderten.“ In: Fuchs und Harden (Hg.): Reisen im Diskurs. Heidelberg: Universitätsverlag Karl Winter.
Klüger, Ruth (2012): „Wanderer zwischen falschen Leben. Über W. G. Sebald.“ In: Text + Kritik, Heft 158, 2., aktualisierte Auflage, Hg. Ludwig Arnold, edition text + kritik. München: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, S. 95–102.
Liu, Chi-Chun (2022): „Gleise, Lobbys, Wartesäle. Die Bedeutung transitorischer Räume bei W. G. Sebald.“ In: Deutsch-Taiwanische Hefte. Journal für Deutsche Studien, Heft 29, S. 56–82.
Livi Bacci, Massimo (2016): Kurze Geschichte der Migration. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider, 3. Auflage, dt. Erstausgabe. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach.
Lobsien, Verena Olejniczak (2004): „Herkunft ohne Ankunft. Der Chronotopos der Heimatlosigkeit bei W.G. Sebald.“ In: Barbara Thums, Volker Mergenthaler, Nikola Kaminski, Dörte Bischoff (Hg.): Herkünfte. Historisch.ästhetisch.kulturell. Heidelberg, S. 223-248
Niehaus, Michael (2013): „Haltlosigkeit. Einrichtungen.“ In: Figuren der Erinnerung. Studien zum Werk W. G. Sebalds. Hrsg. von Christian Schulte und Winfried Siebers. LIT Verlag, Wien, S. 9–24.
Seidl, Anna (2012): Unterwegs zu W. G. Sebald. Eine Raumpoesie. Amsterdam.
Schievelbusch, Wolfgang (2007): Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, 4. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
Tennstedt, Antje (2007): Annäherungen and die Vergangenheit bei Claude Simon und W. G. Sebald. Am Beispiel von Le Jardin des Plantes, Die Ausgewanderten und Austerlitz. Rombach Verlag KG, Freiburg i.Br./Berlin/Wien.
Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Whitehead, Paul (2019): Im Abseits. W. G. Sebalds Ästhetik des Marginalen. Bielefeld: Aisthesis Verlag.
Zilcosky, John (2004): “Sebald’s Uncanny Travels. The Impossibility of Getting Lost.” In: J. J. Long / Anne Whitehead (Hg.): W. G. Sebald – A Critical Companion. Edinburgh: Edinburgh Universitz Press, S. 102–120.
Zilcosky, John (2006): „Verirrt und wieder zurechtgefunden. Orientierungslosigkeit und Nostalgie in Sebalds „Austerlitz“.“ In: Literatur und Migration, Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, edition text + kritik, München: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, S. 120–130.
Wörterbücher und Lexika
Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm / Neubearbeitung (A–F), digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23, < https://www.woerterbuchnetz.de/DWB2 >, abgerufen am 16.07.2023.
[1]Christian Moser sieht diesen Umstand allerdings etwas dezidierter und verortet Sebald sehr wohl in einer peripatetischen Tradition, die an die Romantik und Aufklärung anknüpft und mit der Sebald ein anderes Denken über die Verbindung von Mensch und Natur aufruft. Die Beziehung zwischen beiden ist jedoch gebrochen, indem Sebald der Perspektivierung des Spaziergängers eine Sichtweise vom Rand her entgegensetzt (vgl. Mooser 2010, insbesondere S. 45ff und 53ff).
[2]Hierauf macht unter anderem Anne Fuchs aufmerksam (Fuchs 2008, S.55, insbesondere Fußnote 1).
[3]Vgl. Tennenstedt 2007, insbesondere S. 203 – 212.
[4]Eva Juhl unternimmt mit Julia Kristeva eine Lektüre der Wanderfiguren und identifiziert diese als Streunende. In ihrer Analyse steht vor allem die Verlusterfahrung im Zentrum (vgl. Juhl 1995). John Zilcosky sieht in der Wiederholung und in den Doppelgängermotiven den Ursprung des Unheimlichen in Schwindel.Gefühle (vgl. Zilcosky 2004).
[5]Zur Frage der Zeitlichkeit in Sebalds Prosawerk vgl. u.a. Frey (2017), Whitehead (2019) und Liu (2022).
[6]Heimat und Heimatlosigkeit gehören nach Ruth Klüger zum Kern seiner Arbeiten: „Denn sein Augenmerk fällt auch in seinen literaturgeschichtlichen Essays immer wieder auf das Thema Heimat beziehungsweise Heimatlosigkeit. Wie weit einer von zu Hause wegkommt, freiwillig oder gezwungen, ist für Sebald die natürlichste Frage, die man einem Menschen stellen kann. Und vielleicht auch die wichtigste.“ (Klüger 2012, S. 96)
[7]Zur theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Fremderfahrung sei u. a. Bernhard Waldenfels empfohlen. Er argumentiert dafür, die Figur des Fremden nicht als passiven Beobachter, sondern als aktiven Teilhaber zu betrachten, der kulturelle Normen und soziale Beziehungen mitgestaltet, beziehungsweise bestehende Normen in Frage stellt, was wiederum zu sozialem und kulturellem Wachstum führt. So gesehen geht jeder gesellschaftlichen Identität immer schon eine Fremderfahrung voraus (vgl. Waldenfels 1997).
[8]Empfehlenswert ist hierzu die Lektüre von Livi Bacci 2016, der diese Aspekte in seiner Kleinen Geschichte der Migration anschaulich macht.
[9]Vgl. Seidl 2012, S. 47.
[10](Vgl. Moser 2010, S. 40)
[11]Das Massive und seine ihm eigene geschichtliche Gravitation tritt in Sebalds Kritik an monumentaler Architektur zutage. Speziell in seinem Roman Austerlitz, aber auch in Die Ringe des Saturn formuliert er eine detaillierte Kritik an eben jenen architektonischen Formationen, die durch ihre schiere Masse, Geschichte mit Gewalt an sich zu binden versuchen und sich dabei alles ihnen Marginale einverleiben.
[12]Vgl. Bachtin 2017 [1986], S. 7.
[13]Michael Frank und Kirsten Mahlke arbeiten im Nachwort zur Suhrkamp-Ausgabe von Bachtins Werk insgesamt sechs Funktionen des Chronotopos heraus: eine kulturtheoretische, eine gattungstheoretische, eine erzähltheoretische, eine gestalterische, eine auf den Menschen bezogene darstellerische sowie eine produktions- und rezeptionsästhetische Funktion. Nicht alle dieser Funktionen sind jedoch für den vorliegenden Aufsatz wichtig (vgl. Frank und Mahlke 2017 [2008], S. 204 – 207).
[14]Vgl. hierzu Wegener 1989, S. 1365. Michael Wegener attestiert dem Chronotopos eine gewisse „begriffliche Unschärfe“, die von Bachtin in dessen Konzeption einkalkuliert ist. Michael Frank betont in diesem Zusammenhang, dass Bachtin in seinen Überlegungen sich nicht zuletzt deshalb auf den Roman bezieht, weil dieser als einzige Kunstform keine abschließenden Genres gebildet habe und daher selbst in ständiger Entwicklung sei (vgl. Frank 2015, S. 163). Die prinzipielle Offenheit des Chronotopos-Konzepts trägt dem Rechnung (vgl. ebd., S. 168). Man kann sich nun darüber streiten, ob es wirklich einzig dem Roman zukommt, strukturell offen zu sein, oder ob es nicht gerade im Hinblick auf Sebalds Arbeiten nicht vielmehr angebracht wäre, auch andere Kunstformen, wie die Malerei und Fotografie, aber auch die Musik hierunter zu fassen.
[15]Frank 2015, S. 165. „Wir sprechen nur von den großen, umfassenden und wesentlichen Chronotopoi. Jeder von ihnen kann jedoch eine unbegrenzte Zahl von kleinen Chronotopoi in sich einschließen: Kann doch jedes Motiv, wie wir schon sagten, seinen eignen besonderen Chronotopos haben.“ (Bachtin 2017 [1986], S. 189)
[16]Vgl. hierzu u. a. Zilcosky 2006.
[17]Jan Ceuppens betont: „Die Orte, an denen sich die Protagonisten aufhalten, sind kaum als neue Heimat zu bezeichnen: Als zu unwirtlich und in jedem Sinne unheimlich werden sie dargestellt. Wie das Innenleben der Ausgewanderten sind auch ihre Orte auffällig oft durch Leere und Verfall gekennzeichnet.“ (Ceuppens 2017, S. 33)
[18]Vgl. Schivelbusch 2007, S. 42ff.
[19]„Gegen das Opium der verstreichenden Zeit […] ist kein Kraut gewachsen. […] Stunde um Stunde wird an die Rechnung gereiht. Sogar die Zeit selbst wird alt.“ (RdS, S. 36)
[20]„Städtchen dieser Art sind Stätten der zyklischen Zeit.“ (Bachtin 2017 [1986], S. 185)
[21]Antje Tennenstedt macht hierzu eine interessante Feststellung. Gleich zu Beginn der Handlung wird nämlich auf die Fassade des Hauses aufmerksam gemacht, die wie ein Trompe-d’oeil beschrieben wird und damit anzeigt, dass es sich beim Haus bereits um etwas Scheinhaftes handelt (vgl. Tennenstedt 2007, S. 204).
[22]Foucault 2019, S. 15.
[23]So bietet Dr. Selwyn dem Ich-Erzähler unter anderem ein Duzend „Märchenäpfel an, die tatsächlich in ihrem Geschmack alles übertrafen, was ich seither gekostet habe […]“ (DA, S. 14).
[24]Vgl. zum Chronotopos der Schwelle Bachtin 2017 [1886], S. 180f.
[25]Diese Bestandsaufnahme deckt sich mit dem, was Bachtin zur Krisenzeit sagt: „Die Zeit in diesem Chronotopos ist im Grunde genommen ein Augenblick, dem gleichsam keine Dauer eignet und der aus dem normalen Fluß der biographischen Zeit herausfällt.“ (Ebd., S. 186)
[26]Die Erinnerungslosigkeit ist hier keinesfalls als Kritik oder Vorwurf zu verstehen. Im Gegenteil steht sie sinnbildlich für einen Zustand, aus dem die (persönliche) Zeit ausgeschlossen ist. Für Sebald sind diese Momente als Orte des Trostes zu verstehen, wie er in einem Gespräch mit Piet de Moor aus dem Jahr 1992 verdeutlicht, in dem er ebenfalls das Bild der Lagune verwendet. „Das Tröstliche der Kunst besteht darin, daß man im Kunstwerk, zumindest wenn es gelungen ist, für ein flüchtiges, sich selbst regulierendes Gleichgewicht sorgen kann. Das ist das Schöne an Kunstwerken, aus denen die Zeit verschwunden ist. […] Es [das Schreiben, Anm. Liu] ist ein Versuch ganz kleine, von der Zeit abgetrennte Lagunen zu schaffen.“ (AdE, S. 75)
[27]„Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, in dessen Mitte ich wie ein Geblendeter stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, all meine von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche, als sei das schwarzweiße Rautenmuster der Steinplatten zu meinen Füßen das Feld für das Endspiel meines Lebens, als erstrecke es sich über die gesamte Ebene der Zeit. […] Den Zustand, in den ich darüber geriet, sagte Austerlitz, weiß ich, wie so vieles, nicht genau zu beschreiben; es war ein Reißen, das ich in mir verspürte, und Scham und Kummer, oder ganz etwas anderes, worüber man nicht reden kann, weil dafür die Worte fehlen […]. Ich entsinne mich nur, daß mir […] die Zerstörung bewusst wurde, die das Verlassensein in mir angerichtet hatte […]“ (A, S. 200ff).
[28]„Paul Bereyter hatte, wie ich bald herausfand, in S. eine Wohnung gehabt […], hatte sich aber in dieser Wohnung kaum je aufgehalten, sondern war ständig auswärts gewesen, ohne daß man gewusst hätte, wo. Diese dauernde Abwesenheit vom Ort sowie das bereits mehrere Jahre vor der Versetzung in den Ruhestand sich abzeichnende und in zunehmendem Maße auffällig fremde Verhalten hatten den Ruf des Exzentrischen, der Paul Bereyter aller pädagogischen Befähigung ohngeachtet die längste Zeit schon anhing, befestigt und, was seinen Tod betraf, in der Bevölkerung von S., unter der Paul Bereyter aufgewachsen war und mit gewissen Unterbrechungen stets gelebt hatte, die Auffassung hervorgebracht, daß es so gekommen sei, wie es habe kommen müssen.“ (DA, 43)
[29]Die Wandervogel-Bewegung wurde 1933 von den Nationalsozialisten verboten und zwangsweise in die Hitlerjugend überführt (vgl. hierzu u. a. Giesecke 1981).
[30]Insbesondere der Erzählband Schwindel. Gefühle und sein Opus magnum Austerlitz können als Belege für diese Aussage herangezogen werden.
accepted July 25, 2023]
Refbacks
- There are currently no refbacks.
Copyright (c) 2023 Chi-Chun Liu
This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International License.
Copyright © 2016. All Rights Reserved | Interface | ISSN: 2519-1268